"Der Migrationsdruck erfordert vernünftige und klare Antworten"

Szene nahe der griechisch-mazedonischen Grenze
Szene nahe der griechisch-mazedonischen Grenze(c) REUTERS (MARKO DJURICA)
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Juliane Kokott, deutsche EU-Generalanwältin, vermisst die richtigen Antworten der EU auf die aktuellen Flucht- und Migrationsbewegungen. Rechtsstaat und Sozialsystem kämen unter Druck.

Die Presse: Hat die EU mit ihrem jetzigen Asyl- und Fremdenrecht die richtigen Antworten auf die aktuellen und wohl auch noch kommenden Flüchtlings- und Migrationsbewegungen?

Juliane Kokott: Da ist es objektiv schwierig, überhaupt die richtigen Antworten zu haben, und die Union hat sie offensichtlich nicht. Nach dem Dublin-System sollen die Flüchtlinge dort verbleiben, wo sie gerade ankommen, und die Anträge müssen dort geprüft werden. Es liegt auf der Hand, dass Griechenland und andere Staaten damit vollständig überfordert werden. Darauf ist man nicht vorbereitet. Wenn es funktionieren sollte, müsste man diese Staaten massiv unterstützen.

Es gibt eine Massenzustrom-Richtlinie, die 2001 nach den ethnischen Vertreibungen in Ex-Jugoslawien geschaffen wurde und vorübergehenden Schutz ermöglicht.

Sie klingt auf den ersten Blick wunderbar, aber sie regelt mehr Verfahren als Inhalte. Damit das Ganze ins Werk gesetzt wird, setzt sie eine Ratsentscheidung mit qualifizierter Mehrheit voraus. Dazu kommt es aber nicht. Außerdem enthält sie nicht die von Deutschland gewünschten Quoten und Verteilungen. Das ist auch schwierig: Es ist eine politische Frage, wie viele Personen man aufnimmt und wie man das ganze Verfahren gestaltet. Die Union ist eben nicht so weit integriert, dass man in dieser vitalen Frage ohne Weiteres zu Übereinstimmungen kommt.

Kein Mitgliedstaat will mehr machen, als er unbedingt muss.

Ja. In der alten Richtlinie stand auch noch drin, dass jeder Staat seine Aufnahmekapazität selbst definiert. Darüber ist man eben nicht hinausgekommen.

Befürchten Sie, dass ein zunehmender Migrationsdruck Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte beeinträchtigen kann?

Das ist natürlich eine Herausforderung. Es ist immer leichter, in Reichtum zu leben und den Kuchen unter wenigen zu teilen, als unter vielen neuen, eventuell künftigen Mitbürgern zu leben, die die Sprache hier noch nicht sprechen und noch keine Berufe haben. Das setzt den Rechtsstaat und die Sozialsysteme unter Druck. Da muss man vernünftige und klare Antworten finden.

Beim geplanten Freihandelsabkommen TTIP ist die wirtschaftsraumübergreifende Streitbeilegung einer der umstrittensten Punkte. Halten Sie die Schiedsgerichtsbarkeit für ein geeignetes Mittel?

Ich finde interessant, wie die Schiedsgerichtsbarkeit als richtiger Beelzebub erscheint. Bislang war es ja so, dass seit den 1950er-Jahren gerade auch von Deutschland aus in bilateralen Verträgen Schiedsgerichte massenweise vorgesehen wurden. Nun soll man selbst Schiedsgerichten unterworfen werden, und da ist plötzlich alles ganz anders. Aber natürlich ist man Rechtsstaat im Gegensatz zu den anderen Staaten, in denen man kein Vertrauen in den Rechtsstaat hat und man Schiedsgerichte eingerichtet hat, um Investitionen anzuziehen. Es kommt darauf an, wie man die Schiedsgerichte ausgestaltet; per se würde ich sie nicht verteufeln. Man kann natürlich fragen, ob man sie braucht, aber selbst Frankreich hat meines Wissens Disneyworld Paris nur mit einer Schiedsklausel bekommen. Ein Staat-Investor-Schiedsgericht war die Bedingung dafür. Also auch zivilisierte, europäische Staaten können davon profitieren und lassen sich freiwillig darauf ein.

Der EuGH folgt den Schlussanträgen der Generalanwälte nicht immer, aber doch häufig. Trügt der Eindruck, dass die Generalanwälte die eigentliche Arbeit machen?

Wir haben unterschiedliche Sorten von Arbeit. Die Generalanwälte haben – aus meiner Sicht zum Glück – mehr Zeit, sich einem spezifischen Fall und einem Akt in der Tiefe zu widmen, diesen zu durchdenken und ein konsistentes Dokument durchzuschreiben. Aber es geht nicht an, dass eine Person in ihrem Kämmerlein solche Fragen, die alle angehen und viele Rechtskulturen betreffen, allein ausarbeitet und das dann ohne Weiteres so entschieden wird. Die Richter hingegen müssen sich einigen. Sie verbringen viel Zeit damit, sich zu einigen. Das ist auch Arbeit.

Trotzdem bleibt es dabei: Wenn es Schlussanträge gibt – und das ist etwa bei jedem zweiten Urteil der Fall –, folgt der EuGH ihnen in der Mehrzahl der Fälle.

So muss das auch sein, weil der Gedanke der ist, dass die Lösung schon im Gesetz steht und dass man sie nur entdecken muss. Natürlich gibt es Fälle, in denen man so oder so entscheiden kann, aber das Recht prägt das schon vor.

Wie beurteilen Sie Ihren persönlichen Einfluss auf die Judikatur des EuGH? Sie haben zum Beispiel die viel beachtete Judikatur zum Umbrella-Pricing vorbereitet. Diese ermöglicht Ersatzansprüche für Schäden, die durch überhöhte Preise entstehen, auch gegen Nichtkartellanten.

Ja, das ist so ein Grenzfall. Ich versuche eben, durch Überzeugung zu wirken. Und das gelingt häufig, aber nicht immer. Ein Gegenbeispiel ist der berühmte Berlusconi-Fall.

Der frühere italienische Ministerpräsident war wegen Bilanzfälschung angeklagt worden.

Ja, und dann wurde durch die Regierung Berlusconi die Gesetzeslage nachträglich so gestaltet, dass es aus formalen Gründen nicht mehr möglich war, ihn zu verfolgen. Ich habe gesagt, das ist nicht zulässig, weil das Unionsrecht effektive Sanktionen gegen Bilanzfälschung vorschreibt. Dem ist der Gerichtshof komischerweise nicht gefolgt.

Es gab dann später einen Fall, in dem der Gerichtshof die Anwendung ganz kurzer Verjährungsfristen in Italien verboten hat, wenn es dadurch praktisch nie zu einer Verurteilung wegen schweren Mehrwertsteuerbetrugs kommt.

Ja, das war der Fall Taricco. Da wurde gefolgt, und das führt zu vielen Diskussionen in Italien.

In Ihren Schlussanträgen zum österreichischen Fall Schwarze Sulm haben Sie Konfuzius zitiert mit: „Einen Fehler machen und nichts ändern, das ist der Fehler.“ Warum das? Ich wüsste nicht, dass Konfuzius' Aussagen EU-Recht wären.

Das ist einfach eine allgemeine Weisheit.

[ Foto: Gerichtshof der EU ]

ZUR PERSON

Juliane Kokott, Deutsche des Jahrgangs 1957, ist seit 2003 Generalanwältin am EuGH. Sie hat in Deutschland, der Schweiz und den USA Rechtswissenschaften studiert. 1992 wurde sie Professorin für deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht in Augsburg. Danach lehrte sie in Heidelberg, Düsseldorf und St. Gallen. Kokott war stellvertretende Richterin für die deutsche Regierung am Vergleichs- und Schiedsgerichtshof der OSZE und stellvertretende Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats „Globale Umweltveränderungen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)

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