Moralische Klarheit

(c) AP (Peter Morrison)
  • Drucken

Die Sprache der Moral wurde von der religiösen Rechten vereinnahmt. Und egal, wie schäbig sie sich verhält: Sie bietet ein Konzept des Guten an, das weder Peinlichkeiten noch hehre Begriffe scheut.

Kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September kam der Ausdruck „Moral Clarity“ (moralische Klarheit) ins politische Lexikon. Er wurde vor allem von Befürwortern der Bush-Regierung verwendet, die die berühmt-berüchtigte „Achse des Bösen“-Ansprache als Beispiel der moralischen Klarheit sahen – und nicht, wie die Zeit uns gelehrt hat, als einen offensichtlichen Beweis für die Inkompetenz, die es schaffte, die iranische Opposition zu unterminieren, den Iran sowie Nordkorea dazu anzustacheln, ihre nuklearen Ambitionen zu beschleunigen und den Boden für den desaströsen Krieg im Irak zu ebnen.

Den Ausgang der Wahlen von 2004 feierten die Republikaner nicht nur als Sieg ihrer Kandidaten, sondern auch als Triumph der moralischen Klarheit an sich. Wähler, so sagten sie, hätten dem blassen und unentschlossenen Kerry eine Absage erteilt und einen Mann gewählt, der sagt, was Sache ist, und Werte ohne zu zögern verteidigt: ob durch militärische Heldentaten im Ausland oder Kulturkriege in der Heimat.


Moral? Für Nicht-Amerikaner waren solche Behauptungen kaum verständlich und Millionen Amerikaner waren angewidert von der falschen Verwendung des Ausdrucks durch die Bush-Regierung. Gab es irgendetwas Moralisches an der Anzahl der Lügen und Skandale, die den Krieg begleiteten? Gab es irgendeine Klarheit über die Regierung, die Folter mit Gelassenheit praktizierte, jedoch entsetzt auf Schwulenhochzeiten blickte? Aber den Anspruch der Rechten auf moralische Werte wegzuwischen heißt, dass man vergisst, was er bietet. Egal, wie schäbig die Rechten sich verhalten, bieten sie ein öffentliches Konzept des Guten an, welches die Linke zu verteidigen verlernt hat. Rechte Appelle an moralische Klarheit können leer sein, doch das ist nicht dasselbe wie bedeutungslos zu sein: Leere Begriffe bleiben Begriffe auf der Suche nach einer Anwendung. Dagegen hat die Linke die Begriffe selbst entleert. Die meisten Stimmen, die bereitwillig universale moralische Konzepte verwenden, betrachten sich selbst als konservativ.

Etwas fehlt der Rechten auch, was wichtiger sein könnte als das, was sie besitzt: das Gefühl der Peinlichkeit. Ihre Anhänger gebrauchen Wörter wie „böse“ und „Held“ vielleicht übermäßig, aber sie fürchten sich nicht, sie in den Mund zu nehmen. Bedacht darauf, nicht zu vereinfachen und nicht kitschig zu sein, tendiert die Linke dazu, nicht nur Wörter wie „Moral“ und „böse“, sondern auch Wörter wie legitim und Fortschritt aus ihrem Sprachgebrauch zu verbannen. Wenn überhaupt verwendet, werden sie unter Anführungszeichen gesetzt, um eine Distanz zwischen Redner und Sprache auszudrücken – mit der ultimativen postmodernen Geste, die sicherstellen soll, dass niemand überhaupt irgendetwas ernst nimmt.

Meine Entscheidung, ein Buch namens „Moral Clarity“ zu schreiben, war getrieben von Zorn und von Hoffnung. Der Zorn richtete sich gegen diejenigen, die das entscheidende moralische Territorium besetzt hatten. Die Hoffnung war, durch die Nutzung von moralischer und politischer Philosophie mitzuhelfen, um das schändlich abgegebene Territorium zurückzugewinnen. Die Vereinnahmung moralischer Konzepte durch die Bush-Regierung unterstützte ein Phänomen, das bereits seit Dekaden bei den Linken stattfindet.

Alle möglichen Kräfte steuerten dazu bei: Bedenken über eurozentristische universale Behauptungen, welche anderen Kulturen gegenüber blind waren; Überreste von marxistischen Behauptungen, dass moralische Werte bloß den konstruierten Überbau darstellen, um Klasseninteressen zu verschleiern. Allerdings war für viele die Rhetorik aus dem Weißen Haus der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Wenn moralische Werte so ausschauten, hätten wir sie am besten gänzlich vergessen. Manche wiesen auf die Ähnlichkeiten zwischen der Sprache Bushs und Bin Ladens hin: Waren moralische Werte nichts anderes als ein Schreiduell zwischen dogmatischen und dickköpfigen Fanatikern, die eher durch den Glauben als durch Vernunft angetrieben wurden?

Es ist eine verständliche Reaktion, doch sie übersieht den Umstand, dass wir moralische Bedürfnisse haben. Etwa das Bedürfnis, Ehrfurcht zu äußern, und das Bedürfnis, Empörung auszudrücken, das Bedürfnis, Euphemismen abzulehnen und Dinge bei ihren Namen zu nennen, aber auch das Bedürfnis, unsere Leben als Geschichten mit Bedeutung zu sehen – Bedeutungen, die wir der Welt aufzwingen, eine wesentliche Quelle menschlicher Würde, ohne die wir unser Leben als bedeutungslos ansehen. Am grundsätzlichsten müssen wir die Welt in moralischen Begriffen sehen. Ansprüche auf moralische Klarheit haben Resonanz, weil es sich um etwas handelt, das wir mit Recht begehren. Wer sie nicht findet, gibt sich wahrscheinlich stattdessen mit einer viel gefährlicheren Einfachheit oder Reinheit zufrieden.


Bibel als Quelle. Der erste Schritt, um die moralische Sprache für eine fortschrittliche Verwendung zurückzugewinnen, ist zu zeigen, dass, auch wenn moralische Bedürfnisse durch Religion gestärkt werden können, Religion sie nicht am Leben erhalten kann. Moral ist eher in der Struktur der Vernunft fundiert. Moralische Empörung und politischer Aktivismus beginnen, wo die Begründungen fehlen. Wenn rechtschaffene Menschen leiden und boshafte Menschen florieren, beginnen wir uns zu fragen, warum. Dieser Punkt ist essenziell für Gläubige sowie für Atheisten. Atheisten können die Moral nicht so leicht verwerfen wie die Religion, weil moralische Prinzipien vor religiösen kommen. Gläubige können auch nicht den Glauben als Ersatz für moralisches Denken nehmen: Religion kann womöglich ihre Suche nach moralischen Werten aufrechterhalten, doch sie kann nicht ihre Quelle sein.

Die Bibel selbst ist der erste Ort, um dies zu lernen – falls wir lernen, sie richtig zu lesen. Man denke an die Geschichte von Sodom und Gomorrha, an die fundamentalistischen Warnungen über Feuer und Schwefel. Eigentlich waren nicht Unzucht oder Homosexualität die Sünden der Sodomiten, sondern die lokale Forderung, zwei vorbeiziehende Fremde, denen der gutherzige Lot Schutz angeboten zu hatte, herauszuzerren und zu Tode zu vergewaltigen.

Manchen Legenden zufolge waren die Sodomiter nicht nur unmoralisch, sondern willentlich anti-moralisch: Einen Gast in der Gruppe zu vergewaltigen war kein unbeabsichtigter Vorfall, sondern von Sodoms Recht vorgeschrieben. In diesem Fall stellte sich heraus, dass die Gäste Engel waren, was Sodoms Untat bewiesen hat, aber ob Sie nun an Engel oder alte Regeln der Gastfreundschaft glauben oder nicht, werden Sie wahrscheinlich die Sünden der Sodomiter als inakzeptabel ansehen.

Der wichtigste Teil der Geschichte ist jedoch, was genau davor passiert. Gott offenbart seinem vertrauten Diener Abraham sein Vorhaben, die Städte zu zerstören; Abrahams Reaktion ist erstaunlich. Wie kann der Gott der Gerechtigkeit die Gerechten und die Ungerechten gleichermaßen zerstören? Was, wenn es 50 unschuldige Seelen in der Stadt gibt? Der Gott der Gerechtigkeit willigt ein, dass Er die Städte verschonen wird, wenn 50 gute Seelen gefunden werden können. Aber der Herr ist nicht pedantisch! Würde Er die Städte zerstören mangels läppischer fünf?


Abraham handelt die Zahl der guten Seelen, die man finden muss, auf zehn hinunter, und seine Tapferkeit kann einem Ehrfurcht einflößen. Er ist bereit, aus Prinzip für unschuldige Unbekannte das Risiko einzugehen, den Zorn Gottes zu provozieren. Die Geschichte zeigt uns auch, dass es sich bei einem moralischen Urteil nicht um Entscheidungen handelt, die ein für alle Mal gemacht werden, vielmehr geht es darum, auf Details zu schauen. Moralische Argumentation ist langsam, spezifisch und selten absolut. Doch wenn Abraham Gott Einhalt gebieten und ihn über Ethik nachdenken lassen kann, dann ist keiner von uns davon ausgenommen.

Abrahams Gerechtigkeitsgefühl war klarerweise nicht von Gottes Geboten abgeleitet. In „Moral Clarity“ habe ich argumentiert, dass diese für Gläubige in der Bibel und für säkulare Leser in den Epen von Homer zu finden sind.

Wir müssen die Aufklärung von den Klischees reinigen, die sie umringen: Dass die Aufklärung die menschliche Natur als wohlwollend und Fortschritt als zwangsläufig betrachtete, Glaube als abgenutzte Antwort zu Fragen der Vergangenheit sah und Technologie als Antwort aller Probleme der Zukunft propagierte. Tatsächlich war sich keine Ära der Existenz des Bösen bewusster, und keine Ära untersuchte vorsichtiger die menschlichen Grenzen.


Aufklärung. Die Aufklärung griff nicht die Ehrfurcht, sondern die Vergötterung und den Aberglauben an; sie dachte nie, Fortschritt sei unumgänglich; sie dachte, Fortschritt sei möglich. Weshalb sich der Aufklärung zuwenden? Es gibt keine bessere Alternative. Ablehnung der Aufklärung resultiert in prämoderner Nostalgie oder postmodernem Misstrauen; wo Aufklärung infrage gestellt wird, steht die Moderne auf dem Spiel. Die Verteidigung der Aufklärung ist eine Verteidigung der modernen Welt, mit all ihren Möglichkeiten für Selbstkritik und Veränderung. Wenn man sich der Aufklärung verpflichtet fühlt, fühlt man sich dazu verpflichtet, die Welt zu verstehen, um sie zu verbessern. Die Aufklärung des 21. Jahrhunderts muss die Arbeit des 18. Jahrhunderts erweitern, indem sie auf neue Gefahren für die Gedankenfreiheit in unserer Kultur sowie auch in anderen hinweist und für die Ausbreitung sozialer Gerechtigkeit eintritt.

Das sind die wichtigsten Verpflichtungen. Es gibt aber auch formale, wie die Toleranz und die Skepsis, die oft als substanziell für das Herzstück der Aufklärung gesehen werden. Skepsis und Toleranz werden uns aber nicht weit bringen: Es ist möglich, dass sie Leid verhindern, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie jemanden dazu animieren, gut zu handeln. Die Aufklärung zurückgewinnen heißt andere, von ihr abgeleitete Werte zu verstehen. Das sind mindestens vier Werte. Einer davon ist die Idee, dass Menschen das gleiche Recht auf Glück haben. In früheren Zeiten sah man Krankheiten als ein Zeichen göttlichen Missfallens oder Armut als einen Zustand, der im Paradies geheilt wird. Erst das aufklärerische Denken erlaubte uns, sie als vom Menschen überwindbar zu sehen. Ein zweiter Wert aus der Aufklärung ist das Bekenntnis zur Vernunft– nicht als entgegengesetzt zur Leidenschaft, die im 18. Jahrhundert so aufrührerisch wie in jeder anderen Epoche war, aber entgegengesetzt zur blinden Autorität und dem Aberglauben.


Ehrfucht. Ein dritter Wert ist überraschender, aber genauso wichtig: Ehrfurcht für die Schöpfung ist eine Form der Dankbarkeit und ein Zeichen der Demut: Was auch immer Sie denken, was die Welt erschaffen hat, Sie sollten sich besser erinnern, dass Sie es nicht waren. Hoffnung, ein vierter Wert der Aufklärung, ist das, was alle anderen Werte antreibt, doch es ist nicht dasselbe wie Optimismus. Hoffnung ist keine Feststellung von Fakten, aber ein Fundament für Taten: Wenn Sie glauben, alles wird seit jeher immer schlimmer, ist es unwahrscheinlich, dass Sie versuchen werden, diese Verschlechterung aufzuhalten. Wenn Sie auf die fundamentale Verdorbenheit der menschlichen Natur insistieren, werden Sie wohl kaum etwas Energischeres tun, als den Kopf zu schütteln.

Der Untertitel von „Moral Clarity“ lautet „A Guide for Grown-up Idealists“. Als ich zu schreiben begann, musste Barack Obama erst am Welthorizont erscheinen; während ich diese Zeile schreibe, wird seine Kampagne von der iranischen Opposition als Vorbild verwendet. Sie sind nicht die Einzigen, die hoffen, dass dieser Mann ein Modell für einen ebenso wahren wie ausgereiften Idealismus ist – in Kants Worten: die Fähigkeit zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte, zu unterscheiden, ohne jemals die Sicht auf eines der beiden zu verlieren. Als ein Amerikaner, der durchgehend für Obamas Kampagne ehrenamtlich gearbeitet hat, bin ich befriedigt, wenn ich daran denke, dass ein amerikanischer Präsident wieder als Symbol dienen kann für etwas, das die Welt braucht. Aber wenn das Symbol effektiv sein soll, müssen wir alle wissen, was moralische Klarheit im 21. Jahrhundert bedeuten kann.

Übersetzung: Olivier Gergely

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.