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„Unterleuten“: Juli Zehs Idee, unsere komplexe Gesellschaft in einem dörflichen Mikrokosmos zu spiegeln, ist originell, aber problematisch.Sie legt der Romankonstruktion zu enge Fesseln an. So bleibt es beim Dorfkrimi.

Wenn jeder nur den eigenen Willen durchzusetzen versucht, gehen am Ende alle unter: In Juli Zehs Roman „Unterleuten“ ertrinkt ein deutsches Dorf in Gewalt und Hass – wegen eines geplanten Windparks. Fast zehn Jahre hat sie daran geschrieben, jetzt ist es da: Juli Zehs Opus magnum „Unterleuten“, als „großer Gesellschaftsroman“ angekündigt, von ihrem neuen Verlag, Luchterhand, mit eigener Website (www.unterleuten.de) beworben und versehen mit einem Titel, der mit banalem Wortspiel unmissverständlich klarmacht, worum es in dem über 600-Seiten-Werk geht: „Unterleuten“ soll zeigen, wie es „unter Leuten“ in unserer Gesellschaft heute,im „Zeitalter bedingungsloser Egozentrik“, wie es an einer Stelle heißt, zugeht.

Dazu erschafft Zeh das fiktive Dorf Unterleuten in Brandenburg, das gerade noch in Pendelnähe zur Metropole Berlin liegt. Unterleuten wird im Jahr 2010, in dem der Roman spielt, von unterschiedlichen Archetypen bewohnt: Da gibt es ein Akademikerpärchen, das das hippe Stadtleben gegen ein neues Rousseau'sches Zurück-zur-Natur-Idyll eingetauscht hat, eine junge, knallharte Unternehmerin aus der Generation der Millennials, die ihr eigenes Business in Form einer Pferdezucht aufbauen will, aber auch den alteingesessenen Landwirtschaftsunternehmer Gombrowski, den „Paten“ von Unterleuten, der die Arbeitsplätze im Dorf sichert, und dessen ewigen Widersacher Kron, der Gombrowski seine privilegierte Herkunft nicht verzeihen kann. Und einen reichen Investor, der mit dem Dorf an sich gar nichts zu tun hat, aber die spottbilligen Grundstückspreise ausnützt, um zu spekulieren, den gibt es schließlich auch noch.

Konfliktlinien verlaufen mehr oder weniger zwischen allen Parteien, jeder hat Eigeninteressen, die er gegenüber seinem Nachbarn durchsetzen möchte. Grundsätzlich fühlt sich auch jeder gegenüber dem anderen im Recht, nur die Wege, die man beschreitet, um sein Ziel – eine Baugenehmigung oder das Schweigen eines Rasenmähers – zu erreichen, divergieren je nach sozialem Hintergrund und Charakter: Wendet sich der eine ordnungsgemäß an die Behörden, betreibt der andere guten alten Nachbarschaftsterror. Richtig ernst wird die Lage, als für manche Unterleutner die Chance zum großen Geld kommt: Brandenburg beschließt, in erneuerbare Energie zu investieren, was den Bürgermeister freut, der mit den Steuern eines Windparks die Finanzen der Gemeinde sanieren will. Die Besitzlosen der Gemeinde sind davon wenig begeistert, die Grundstückseigner versuchen, einander zu übertölpeln, alle wollen vom Bau der Anlage auf ihrem Grund und Boden profitieren. Die Drohgebärden werden heftiger; am Ende sind praktisch alle Beziehungen zerbrochen, es fliegen auch Steine auf Fensterscheiben, der Vorwurf der Kindesentführung steht im Raum, und es gibt mehrere Tote.

Zehs Idee, unsere hochkomplexe, stark ausdifferenzierte Gesellschaft in einem dörflichen Mikrokosmos zu spiegeln, ist vielleicht originell, aber problematisch. Die Enge der Dorfperspektive lässt kein breites Gesellschaftspanorama entstehen, auch wenn die Figuren unterschiedliche Gesellschaftsschichten repräsentieren. Es gibt nur einen einzigen Schauplatz und auch nur eine Haupthandlung, deren aufwendige Konstruktion dem Roman ein sehr enges Korsett aufzwingt, in das sich jedes Element einfügen muss, und die in ihrer Übertreibung und Zuspitzung bis ins Groteske insgesamt einfach nicht glaubwürdig wirkt. Als repräsentatives Dorf wird man Unterleuten jedenfalls kaum begreifen können, die Gewaltbereitschaft dort ähnelt eher jener eines sizilianischen Dorfs zur besten Zeit der Mafia.

Das Kernthema von „Unterleuten“ ist aber hochinteressant. Die Maxime, einzig den eigenen Besitz zu schützen und immer nur den eigenen Vorteil durchzusetzen – und zwar tatsächlich gemäß dem Grundsatz „Koste es, was es wolle“ –, deren verheerende Folgen Zeh in „Unterleuten“ für die Dorfgemeinschaft vorexerziert, ist wohl tatsächlich die oder wenigstens eine der Achillesfersen unserer Gesellschaft. Das Kernthema des Romans ist nicht das Problem. Das Problem ist der Rest, ist die Romankonstruktion.

Zeh erzählt insgesamt aus nicht weniger als elf verschiedenen Perspektiven. Damit sich der Leser in diesem Gewirr nicht verliert, sind die Kapitel mit dem jeweiligen Nachnamen der Figur, aus deren Sicht gerade berichtet wird, überschrieben. Das hilft aber nur bedingt, bis weit über die Hälfte des Romans fragt man sich immer wieder, wer denn mit Nachnamen Wachs oder Fließ-Weiland hieß, denn die Figuren bleiben insgesamt durchwegs blass. Anstatt sie sich selbst über Handlungen und Gedanken implizit charakterisieren zu lassen, werden sie ständig vom Erzähler kommentiert und auserklärt, was die elffache Perspektivierung in gewisser Weise ad absurdum führt. Durch die vielen explikativen Passagen gelingen zwar immer wieder Stellen, die wie in einem Essay manch aktuelle gesellschaftliche Entwicklung pointiert umreißen, doch verhindert dieses Auserklären insgesamt, dass die Figuren lebendig werden. Sie wirken berechenbar, papieren, wie brave Erfüllungsgehilfen des verschachtelten Plots rund um mehrere Zivil- und Strafrechtsfälle.

Durch die Konzentration auf Rechtsdelikte und die Erzählperspektive wirkt „Unterleuten“ wie der Versuch, einen Gesellschaftsroman in einen Krimi ohne Ermittler zu verpacken. Ein Kriminalroman klärt traditionellerweise aber etwas Mysteriöses, Offenes auf, er gibt also Antworten. Ein Gesellschaftsroman sollte dagegen doch eher Fragen stellen, und zwar jene, die die Gesellschaft im Kern treffen. Diese Fragen fehlen in „Unterleuten“. Antworten hat der Roman dafür mehr als genug parat. Alles, was sich bis zum Ende der Geschichte nicht erklärt, wird in einem Epilog nachgetragen, der erstaunlicherweise plötzlich wieder aus einer neuen – zwölften – Perspektive erzählt wird, und zwar aus der Ich-Perspektive einer Reporterin, die den ungeheuren Vorkommnissen in Unterleuten auf den Grund geht, sodass man sich unweigerlich fragt, warum diese „Ermittlerin“ nicht gleich wie in einem „echten“ Krimi den ganzen Roman erzählen konnte.

Wenig überzeugend ist auch die sprachliche Umsetzung des Romans. Abgesehen von ein paar originellen Vergleichen, die nicht immer gelingen („wie imprägniert von Blässe“), klingen Zehs Sätze hölzern, zuweilen finden sich auch befremdliche Formulierungen, so vergeht eine „nicht unbeträchtliche Menge völlig leerer Zeit“, oder es folgt „ein Augenblick massiver Stille“ – der Romanfindet insgesamt zu keiner eigenen Sprache, die den Leser in den Unterleutner Kosmos hineinziehen würde.

Der große Gesellschaftsroman des 21. Jahrhunderts ist „Unterleuten“ nicht.Eher könnte man sagen, Zeh habe eine Art neuen Dorfkrimi versucht, der auch den Anspruch erhebt, ein bisschen Gesellschaftskritik zu üben. Mehr ist „Unterleuten“ nicht. ■

Juli Zeh

Unterleuten

Roman. 640 S., geb., € 25,70 (Luchterhand Literaturverlag, München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2016)

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