Ismael Ivo: "Ich habe nie nur zum Vergnügen getanzt"

Wo der Tanz steht - über den zeitgenössischen Tanz in Österreich
Wo der Tanz steht - über den zeitgenössischen Tanz in Österreich(c) ORF (Thomas Kirschner)
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Der brasilianische Tänzer, Choreograf und Lehrer Ismael Ivo im Interview über seine Eltern, Trance, Optimismus und Europa, dessen Transformationen ihn immer wieder beeindrucken, aber auch beunruhigen.

Sind Sie ein Optimist? Sie wirken so.

Ismael Ivo: Ich bin ein Optimist, noch immer, aber es ist nicht leicht. Wir leben in schwierigen Zeiten. Die französische Choreografin Maguy Marin sagte neulich zu mir: „Wir Künstler müssen jetzt einen Plan zur Veränderung der Welt entwickeln.“ Wir können die Probleme nicht lösen, aber die Kunst kann sie reflektieren. Mein Körper war immer politisch.

Wann haben Sie begonnen zu tanzen?

Mein Vater war Bauarbeiter, meine Mutter Putzfrau. Ich komme nicht aus einer künstlerischen Familie. Ich war sehr klein, ich erinnere mich, dass ich mich gedreht habe, bis ich umgefallen bin. Meine Mutter sagte: „Hör auf! Du brichst dir ein Bein und ich muss dich ins Spital bringen.“ Aber das war ein wunderbarer Moment: Als wäre ich ein Derwisch in Trance.

Waren Sie je mit Rassismus konfrontiert?

Ja. Nicht in Berlin, wo ich lebe, nicht in Wien. Aber man kann das nicht ignorieren. Mein schwarzer Körper steht in einer Beziehung zur Gesellschaft, und in dieser gibt es nun einmal Rassismus und Xenophobie, die sich in letzter Zeit verschärft haben. Man spürt das. Es ist immer da. Darum mache ich jetzt dieses neue Solo: „Discordable – Bach“.

Bach ist die harmonischste Musik der Welt, könnte man meinen.

Die Idee kam vom Cellisten Dimos Goudaroulis. Discordable heißt „nicht übereinstimmend“, „disparat“. Leider leben wir in unharmonischen Zeiten. Heuer erinnern wir uns an Shakespeares 400. Todestag, „Sein oder Nichtsein“ ist eines seiner berühmtesten Zitate, aus „Hamlet“. Ich bewundere Shakespeare, aber René Descartes ist mir wichtiger. Nach starken Zweifeln postulierte er seinen berühmten Satz: „Ich denke, also bin ich.“ Wir stehen an einer Zeitenwende. Wir sind nicht sicher, was die Zukunft bringen wird. Probleme, die wir glaubten, gelöst zu haben, kommen wieder. Wir entwickeln uns zurück. Denken hilft.

Was hat das mit „Discordable – Bach“ zu tun?

Viel. Wenn das Solo beginnt, hängt mein Körper kopfüber von der Decke, ein schwarzer Körper, der vom Himmel fällt und zu fragen scheint: Darf ich hier sein? Was mache ich hier? Kann ich landen? Erinnert Sie das an etwas? Zum Beispiel an die vielen Menschen, deren Leben zerstört wurde, die auf der Flucht sind und solche Fragen stellen.

Glauben Sie wirklich, dass die Leute das so interpretieren werden? Ich finde, Tanz feiert von allen Künsten am meisten die Schönheit.

Da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Tanz feiert das Leben. Ich habe nie zum Vergnügen getanzt. Ich sehe meinen Körper als ein Medium, wichtige Fragen zu stellen.

Haben Sie jemals gewünscht, weiß zu sein?

Niemals. Ich liebe meine kulturellen brasilianischen Wurzeln, dieses Erbe hat mich zu dem gemacht, was ich bin, dort kommt meine künstlerische Inspiration her. Wir müssen dem einzelnen Menschen wieder mehr Bedeutung zumessen. Wir dürfen uns nicht vor der Verschiedenheit fürchten. Transkulturalität ist die Zukunft, nicht Multikulturalität, die alles vermischt. Wir können das aushalten, dass jeder anders ist.

Sie haben gut reden! Sie sind ein berühmter Künstler, der sich frei bewegen kann. Die Flüchtlinge haben nichts und sind an vielen Orten eben nicht willkommen – und sie können sich nicht wehren.

Da haben Sie recht. Darum vergesse ich beim Tanz nie das Wichtigste: Engagement. Ich habe 2002 das Solo „Mapplethorpe“ getanzt, benannt nach dem 1989 verstorbenen Fotografen Robert Mapplethorpe. Die Aufführung war auch im Volkstheater zu sehen. Während ich auf meinem Podest stand, wurden dahinter die Namen zum Tode Verurteilter eingeblendet.

Das ist sicher eine gute Aktion gewesen, aber glauben Sie wirklich, dass Kunst politische Gegebenheiten ändern kann?

Wir schauen in den Spiegel, wir sind nicht perfekt und werden es nie sein. Die Geschichte wiederholt sich. Ich möchte mich selbst als Lampe auf einen Altar stellen und den Menschen Impulse geben, über bestimmte Themen nachzudenken. Ich möchte mein Publikum sensibilisieren. Im ersten Moment, wenn ein Fremder auftaucht, zucken die Leute zurück. Aber ich öffne mich ihnen, daher öffnen sie sich auch mir.

Mir kommt vor, dass wir in kälteren Zeiten leben als nach dem Krieg, als die Katastrophe noch für viele sehr direkt präsent war. Das Grauen kann jederzeit passieren, man hatte es gerade am eigenen Leib erlebt.

Wir leben in einer kalten Zeit. Das ist richtig. „Discordable – Bach“ soll ein Beitrag sein, wie wir das ändern können. Es geht nicht um eine Predigt, wir müssen verstehen, dass wir nicht in allem übereinstimmen, aber eben deswegen gegenüber anderen nicht unangenehm und unsympathisch werden müssen. Pina Bausch sagte einmal: „Tanzen, tanzen, tanzen, damit wir nicht verloren gehen.“

Wie viele Stunden am Tag üben Sie? Tanz ist eine Lebensform, oder? Sie können nicht in ein Wirtshaus gehen und ein Gulasch essen.

Nein. Ich gehe aber auch nicht zum ganz strengen Training. Ich muss jeden Tag mindestens zwei Stunden üben, damit der Körper in Form bleibt, ich möchte ja weiterhin auf der Bühne stehen. Ich rauche nicht, ich trinke keinen Alkohol. Das habe ich nie getan. Ich bin ein Träumer, das war ich immer, das werde ich immer sein. Der Tanz bringt einen in eine andere Dimension des Seins.

Es gibt einen unglaublichen Hype um den Tanz. Als Sie das Festival ImPulsTanz 1984 mit Karl Regensburger in Wien gegründet haben, war das nicht so. Musik- und Sprechtheater waren die dominanten Kunstformen. Was ist da passiert? So viele Tanzevents, Filme, Kurse gibt es inzwischen.

Ja. Das stimmt. Es war eine Art Evolution. Karl Regensburger und ich liebten das Genre, wir wussten gar nicht, dass sich das Festival derart toll entwickeln würde. Vor Kurzem hatte ich 25 Chinesen zu Gast, ich habe einen Vortrag gehalten, denn sie wollten wissen, wie wir das machen. Wir versuchen auch immer, essenzielle Fragen zu stellen. Heuer zum Beispiel haben wir auf dem Plakat die Frage: What lifts your mind? Was erschüttert deine Ansichten, deinen Glauben? Wir haben uns nicht auf unserem Erfolg ausgeruht, wir gehen weiter und sprechen die neuen Generationen an. Wir sind eine Plattform, wo junge Leute ihre Konzepte entwickeln können. Wir bespielen auch immer neue Räume wie heuer erstmals das Leopold-Museum. Tanz in Museen kommt sehr gut an.

Sind Sie religiös?

Ich komme aus einer katholischen Familie. Aber ich habe mich immer sehr für afrikanisch-brasilianische Mythologie und für Rituale interessiert. Da war ich schon als Kind dabei. Ich liebe auch sehr Meditation und habe mich mit Buddhismus beschäftigt. Ich möchte neugierig bleiben. Mich hat zum Beispiel der Wiener Aktionismus stark fasziniert, der auch ins Programm von ImPulsTanz eingeflossen ist. Ich finde Berührungspunkte zwischen Hermann Nitsch und Marina Abramović. An der Berliner Volksbühne haben Johann Kresnik, Gottfried Helnwein und ich „Die 120 Tage von Sodom“ nach Marquis de Sade und Pasolini gemacht.

Was ist das Wichtigste beim Tanz: Charisma, Talent oder Handwerk?

Es gibt etwas, das du nicht lernen kannst. Du stellst fest, du hast ein bestimmtes Talent, in das investierst du, du liest, studierst, trainierst. Ich sage meinen Studenten immer: Ich kann euch anleiten, euch sagen, wie und wo ihr Inspiration findet, aber das Entscheidende ist, was auf der Bühne stattfindet, und das ist eine Interaktion mit dem Publikum. Das ist so seit der Antike, darum sitzen wir im Dunkeln und erwarten etwas . . .

Hat es auch mit Spiritualität zu tun?

Tanz ist eine Zeremonie, die Macht hat. Die Kunst kommuniziert mit unserem Unbewussten. Wir verlassen unsere Alltagswelt und lassen uns nähren von etwas anderem, das außerhalb von uns ist.

Viele Tänzer können von ihrer Kunst nicht leben. Und schon gar nicht können sie Ismael Ivo werden.

Das ist auch nicht mein Wunsch. Ich glaube, das Materielle sollte man nicht überbewerten. Wichtig ist, dass man daran glaubt, dass man etwas zu sagen hat. Ausstrahlung und Charisma kann man nicht beim Billa kaufen.

Was mögen Sie an Europa?

Ich mag Europa, weil seine Menschen immer wieder neue Übersetzungen für ihr Leben und ihre Situation finden. Sie geben neuen Gedanken Raum. Brasilien bleibt immer Brasilien. Man sagt, die Afrikaner neigten mehr dazu, glücklich zu sein, und sie seien stärker mit der Natur verbunden als die Europäer. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Sicher ist, dass wir die Unterschiede zwischen uns allen als einen Vorteil erkennen müssen. „Discordable – Bach“ soll den Dialog fördern. Bach ist wie Gott.

Steckbrief

1955
Ismael Ivo wird in São Paulo in Brasilien geboren. Er studiert in Brasilien Drama und Tanz-Events. 1983 wird er nach New York eingeladen.

1984
gründet Ivo gemeinsam mit Karl Regensburger das ImPulsTanz-Festival in Wien, inzwischen Europas größtes Tanzfestival. Heuer werden 65 Produktionen gezeigt (Vorverkauf ab 1. Juni). Regensburger ist Intendant, Ivo künstlerischer Berater. Bei ImPulsTanz betreut Ivo das Ausbildungsprogramm Biblioteca do Corpo.

2005–2012
war Ivo Direktor der Tanz-Biennale von Venedig.

Am 6. August
ist „Discordable – Bach“ mit Ismael Ivo am Volkstheater zu sehen.

ImPulsTanz

Die Performances. Das Festival (14. Juli bis 14. August) liefert wieder vermehrt internationale Größen. Maguy Marin eröffnet (14. 7., Volkstheater), es kommen u. a. Anne Teresa de Keersmaeker, Wim Vandekeybus, Israel Galván, Jérôme Bel.
Art and Dance.
Das Leopold-Museum öffnet eine Etage für Performances. Im Mumok treten Tänzer in Dialog zu Bildern der Ausstellung „Painting 2.0: Malerei im Informationszeitalter.“ Eine Workshop-Reihe spannt bildende Künstler mit je einem Theatermann/Choreografen zusammen – mit u. a. Klaus Biesenbach, Tom Stromberg, Meg Stuart, Hans Ulrich Obrist, Thomas Oberender. www.impulstanz.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2016)

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