Wo nur 40 Prozent einen Job finden

In vielen Ländern Nordafrikas und im Nahen Osten gibt es eine vorindustriell geprägte Wirtschaft.
In vielen Ländern Nordafrikas und im Nahen Osten gibt es eine vorindustriell geprägte Wirtschaft. Michael Zumstein/Agence Vu/picturedesk.com
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In Nordafrika und dem Nahen Osten ist Jobmangel das größte Problem. Experten zeigen Wege auf, wie die Region aus der Krise finden kann.

Das Mittelmeer gilt als eine der gefährlichsten Routen für Flüchtlinge und Migranten. Trotzdem steigen viele Menschen in Schlepperboote, um vor Krieg, Hunger und Armut zu fliehen. Warum Nordafrika und der Nahe Osten in der wirtschaftlichen Krise gefangen bleiben und welche Möglichkeiten es für einen Aufschwung gibt, hat nun das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung untersucht. Die Studie wurde mit Unterstützung des deutschen Außenministeriums erstellt.

Konkret haben die Experten die wirtschaftliche Lage in den sogenannten Mena-Staaten (Middle East and North Africa) untersucht. Dabei handelt es sich um die Region von Marokko bis zum Iran. Als das größte Problem sehen die Autoren den Jobmangel. Denn in der Region finden nur 40 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter einen Arbeitsplatz. „Laut aktuellen Prognosen drängen in den kommenden 15 Jahren jährlich fast fünf Millionen zusätzliche Kräfte auf den Arbeitsmarkt der Mena-Region“, sagt Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts. „Wenn es nicht gelingt, diesen Menschen eine Perspektive auf einen Arbeitsplatz zu bieten, dürften die Flüchtlingszahlen aus der Region langfristig wieder ansteigen. Schlimmstenfalls könnten sich die Konflikte der Mena-Länder teilweise sogar nach Europa verlagern.“ Allein bis 2020 dürfte die Zahl der 15- bis 64-Jährigen, die keinen Job haben, auf 181 Millionen steigen (siehe Grafik).

In der Studie werden die 19 Mena-Länder hinsichtlich der politischen Stabilität, der Wirtschaftskraft und der prognostizierten Bevölkerungsentwicklung in zwei Gruppen eingeteilt.

Zu den stabileren Staaten gehören die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudiarabien, Katar, Kuwait, Bahrein und Israel. Die Gruppe der instabileren Länder umfasst Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Palästina, Libanon, Syrien, den Irak, den Iran, Oman, Jordanien und den Jemen. In den instabileren Ländern leben heute rund 363 Millionen Einwohner. Bis 2030 soll die Zahl um 95 Millionen steigen.

Vom Jobmangel sind vor allem junge Menschen betroffen. Laut der Studie liegt in Libyen die Arbeitslosenrate bei den 15- bis 24-Jährigen bei fast 50 Prozent, in Tunesien sind es 37 Prozent und in den palästinensischen Gebieten 31 Prozent. In Ägypten sind drei Viertel aller 15- bis 29-Jährigen in irregulären Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Mit zunehmenden Bildungsstand steigt die Arbeitslosigkeit. So sind junge Ägypter mit einem Hochschulabschluss zu einem Drittel arbeitslos. Besonders prekär ist die Lage für Frauen. Es gibt Länder, in denen nicht einmal 20 Prozent der 15- bis 24-jährigen Frauen einen bezahlten Job haben.


Vorindustrielle Wirtschaft. Eines der Hauptprobleme liegt in der weitgehend vorindustriell geprägten Wirtschaft. In Marokko sind 39 Prozent aller Beschäftigen im primären Sektor (Landwirtschaft und Fischfang) tätig. Davon leben viele unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Hinzu kommt in vielen Ländern ein aufgeblähter Staatssektor. In Jordanien ist der öffentliche Sektor für mehr als 40 Prozent aller Jobs außerhalb der Landwirtschaft verantwortlich. In Ägypten sind es 70 Prozent. Auch der Dienstleistungssektor lässt zu wünschen übrig. Hier arbeiten die Menschen oft als Kleinstunternehmer wie Obstverkäufer.

Wie kann sich die Lage ändern? Die Autoren der Studie empfehlen eine stärkere Diversifikation der Wirtschaft und eine Stärkung des Privatsektors. Dazu sind nach Ansicht des Berlin-Instituts drei Dinge notwendig. Die Länder sollen erstens mehr in die Bildung investieren und die Lehrpläne an die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts anpassen. Zwar schneiden viele Länder bei den formalen Bildungsergebnissen nicht so schlecht ab. „Doch die Schulen und Universitäten entlassen ihre Absolventen häufig mit Kenntnissen und Fähigkeiten, die nicht den weltweiten Standards entsprechen“, heißt es in der Studie. Technische Fächer und Fremdsprachenkenntnisse werden kaum gelehrt.

Daher finden Unternehmen trotz der hohen Arbeitslosigkeit kaum geeignetes Personal. Der Mangel an Fachkräften schreckt wiederum internationale Investoren ab.

Zweitens raten die Studienautoren, das private Unternehmertum gezielt zu fördern. Dazu müssten bürokratische Hürden abgebaut, die Rechtssicherheit gestärkt und der Zugang zu Gründungskapital verbessert werden. Derzeit weist die Mena-Region weltweit eine der niedrigsten Raten von Unternehmensgründungen auf. Jungunternehmer werden oft gehindert, vielversprechende Ideen umsetzen. Der Grund liegt in der Vetternwirtschaft und im unfairen Wettbewerb. Dies führt dazu, dass alteingesessene Firmen auch mit kaum wettbewerbsfähigen Produkten überleben.

Drittens fordern die Studienautoren, dass die Benachteiligung von Frauen beseitigt wird. Zwar dürfen Frauen in vielen Ländern studieren. Doch dann wird von ihnen erwartet, dass sie ihre beruflichen Ziele zugunsten der Familie zurückstellen.

Die Experten machen deutlich, dass für Veränderungen erhebliche finanzielle Mittel notwendig sind. Das Geld dafür sollte von den Ländern selbst und von der internationalen Entwicklungshilfe bereitgestellt werden. Schon seit Längerem wird ein Marshallplan gefordert, damit junge Menschen in der Krisenregion wieder eine Perspektive haben.

Mena-Region

Stabilere Länder:Vereinigte Arabische Emirate, Saudiarabien, Katar, Kuwait, Bahrein und Israel.

Instabilere Länder:Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Palästina, Libanon, Syrien, der Irak, der Iran, Oman, Jordanien und Jemen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2016)

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