Droht der nächste Flüchtlingsansturm?

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Nach wie vor kommen täglich Menschen über die Balkanroute, im Mittelmeer ist der Strom an Flüchtlingen ungebrochen. Eine Situation wie 2015 sei unwahrscheinlich, sagt ein Experte. Profiteure der Kontrollen sind Schlepper.

Wien. Es sind bekannte Szenen: Unter „Freiheit!“-Rufen versuchten vergangene Woche 300 Flüchtlinge von einem Lager an der ungarisch-serbischen Grenze nach Westen zu marschieren. Einen Tag zuvor fand die mazedonische Polizei bei einer Grenzkontrolle knapp hundert Menschen in einen Lkw gepfercht. Und Tag für Tag werden Leichen ertrunkener Flüchtlinge an den Küsten Libyens angespült. „Was im letzten Jahr stattgefunden hat, war nur ein Vorgeschmack“, sagte Außenminister Sebastian Kurz am Montag. Er fürchtet einen weiteren Flüchtlingsansturm. Auch Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil warnte jüngst, dass sich in Ungarn aufgrund der vielen Aufgriffe eine ähnliche Situation wie im Vorjahr anbahne. Doch wie ist die Lage in Europa derzeit wirklich? Und wie wird sie sich entwickeln?

206.400 Flüchtlinge und Migranten sind seit Anfang 2016 in Italien, Griechenland, Zypern und Spanien angekommen, mehr als doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum 2015. Doch mit dem Ende der Westbalkanroute und dem im April in Kraft getretenen EU/Türkei-Abkommen ist der Flüchtlingsstrom nach Griechenland nahezu versiegt – und zwar drastisch. Waren es im Jänner und Februar noch Zehntausende Ankünfte, erreichten im Mai nur mehr 1465 Menschen – meist Syrer, Afghanen und Iraker – die griechischen Inseln. Den Weg von Libyen oder Ägypten über das Mittelmeer wagen sie nicht.

Besonders tödliches Jahr im Mittelmeer

Es sind Afrikaner, etwa aus Nigeria, Gambia und Somalia, die die Reise nach Malta und Zypern antreten. Sie kommen über den Sudan oder Niger, zwei große Schlepper-Drehscheiben in Afrika, nach Libyen. Die meisten wollten im Bürgerkriegsland arbeiten. Desillusioniert setzen sie ihre Hoffnung später in die mehrere hundert Kilometer lange Bootsfahrt. Von einer Verlagerung der Flüchtlingsroute vom östlichen ins zentrale Mittelmeer könne aber nicht gesprochen werden, sagt Peter Van der Auweraert von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) der „Presse“. Der Zustrom sei vergleichbar mit den Vorjahren. Dennoch drohe 2016 besonders tödlich zu werden, warnte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Heuer sind bis jetzt tausend Menschen mehr als 2015 im zentralen Mittelmeer ertrunken. Ob es reines Pech sei oder es an Faktoren wie maroden Booten liege, sei noch nicht abzuschätzen, sagt der IOM-Sprecher. Das Sterben würde so lang andauern, bis legale Wege nach Europa geschaffen würden – auch auf dem Balkan, kritisiert UNHCR-Sprecher Babar Baloch. Im Mai sei ein Syrer ertrunken, als er über einen Fluss von Serbien nach Ungarn schwimmen wollte. Legal lässt Budapest täglich nur bis zu 17 Menschen in das Land.

Trotz der Balkan-Barriere versuchen hier nach wie vor Menschen nach Westeuropa zu gelangen. Für Massenbewegungen wie 2015 gebe es aber keine Anzeichen, meint Van der Auweraert: Es sind nicht mehr Tausende, sondern bis zu 200 Ankünfte täglich. Auch die befürchtete Fragmentierung der Balkanrouten sei nicht eingetreten. Erfolgreich waren die Grenzschließungen für die Ex-Transitländer Mazedonien, Kroatien und Slowenien: Hier registrierte UNHCR seit März keine illegalen Einreisen mehr. Die Flüchtlinge versuchen nun, über Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Österreich zu gelangen. Die strengen Kontrollen treiben sie vermehrt in die Fänge von Schleppern. Sie passen sich an die neuen Gegebenheiten an.

Schlepper reagieren „tagesaktuell“

So liefern sich Polizei und Schlepper derzeit auch an Österreichs Grenzen ein Katz- und Mausspiel. Längst haben die Kriminellen wegen der Grenzkontrollen „ihr Verhalten geändert“, sagt Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle zur Schlepper-Bekämpfung im Bundeskriminalamt zur „Presse“. Die Schmuggler fahren ihre Passagiere nicht mehr an die Grenze, sondern zwingen sie, Kilometer davor auszusteigen. Den letzten Weg nach Österreich gehen die Flüchtlinge zu Fuß über die grüne Grenze. Die Schlepper reagieren nun zudem „tagesaktuell“, sagt Tatzgern. Wird verstärkt im Nordburgenland, in Nickelsdorf, kontrolliert, weichen sie über Güssing im Südburgenland aus und vice versa. „Um zu täuschen“, montieren sie zunehmend Kennzeichen aus unauffälligen EU-Ländern wie Deutschland und auch der Schweiz an den Fahrzeugen. Die Fahrer stammen trotzdem aus Rumänien oder dem Westbalkan. Auch die Fahrzeugwahl ist anders: Der Trend geht hin zu Kastenwägen, Vans und Pkw-Kombis, die nicht so gut einsehbar sind. An der österreichisch-ungarischen Grenze gab es heuer noch keinen Aufgriff von Flüchtlingen in einem größeren Lkw. Dafür waren schon mehr als 20 Flüchtlinge in einen Neunsitzer eingepfercht, sagt die burgenländische Polizei der „Presse“.

Ein funktionierendes EU-Resettlement-Programm sei eine wichtige Maßnahme, um Schlepper zu stoppen, sagt Van der Auweraert – und große illegale Flüchtlingsströme in die EU in Zukunft zu verhindern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2016)

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