Es geht nicht nur um Europa, sondern auch um Verlustängste

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David Camerons Argument, der Brexit wäre eine wirtschaftliche Katastrophe, zieht nicht. Die Gegner der EU wollen „ihr Land“ wiederhaben.

In der Downing Street 10 liegen die Nerven blank. David Cameron versucht im Endspurt zum Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU immer verzweifelter, die Briten von den Vorzügen der Mitgliedschaft zu überzeugen. Von der Nervosität zeugt die Zahl der Wortmeldungen und kurzfristig anberaumter Stellungnahmen. Scheint in London die Sonne, klettert der Premierminister auf das Dach eines Hotels, um die Wähler vor den Unwahrheiten zu warnen, die Befürworter des Brexit verbreiten. Ist das Wetter nicht so gnädig, richtet Cameron seine Warnungen über diverse soziale Netzwerke aus. Für das eigentliche Tagesgeschäft, das Regieren, bleibt momentan kaum Zeit. Es geht um das Schicksal des Vereinigten Königreichs.

Wer die Auftritte Camerons mitverfolgt, bekommt einen Politiker zu sehen, der nicht zu verstehen scheint, warum seine Argumente beim Publikum nicht ankommen. Er hat in Brüssel neue (wenn auch kosmetische) Zugeständnisse für Großbritannien ausgehandelt, hat US-Präsident Obama dazu gebracht, vor den Folgen des Brexit zu warnen, hat alle Wirtschaftsexperten von Rang und Namen hinter sich versammelt und sogar den Teufel eines neuen Kriegs in Europa an die Wand gemalt. Einen Knock-out-Schlag hat er den Europagegnern aber nicht versetzen können. Cameron hat alles gegeben, trotzdem schwimmen ihm die Felle davon.


Dass die Befürworter des Austritts derart stark sind, hat zweifellos damit zu tun, dass die zerstrittene, mit diversen Krisen heillos überforderte EU nicht das Bild einer idealen Großfamilie abgibt, der man unbedingt angehören möchte. Deren Stärke speist sich aber auch aus der Frustration, die sich in Teilen der britischen (bzw. englischen) Bevölkerung seit Jahren aufgestaut und nun die kritische Masse erreicht hat. Es ist eine Revolte gegen den gefühlten Verlust der Kontrolle über das eigene Leben. Auf der politischen Ebene wird dieser Kontrollverlust durch die Figur des gesichtslosen Eurokraten personifiziert, der von Brüssel aus den Briten vorschreibt, wie sie zu leben haben. Und im eigenen Umfeld manifestiert er sich durch die Neuankömmlinge aus Osteuropa, die ihr auf Baustellen verdientes Geld in die vielen polnischen Supermärkte tragen, die seit der EU-Erweiterung 2004 in ganz Großbritannien entstanden sind. Reporter, die seit Wochen durch die Hochburgen der Brexit-Befürworter in der englischen Provinz ziehen, berichten übereinstimmend von der Klage der Gesprächspartner, das Großbritannien von heute sei nicht mehr „ihr Land“.

Dieses Phänomen ist nicht nur auf Großbritannien beschränkt. Die vom republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump angekündigte Mauer zwischen den USA und Mexiko ist nichts anderes als ein demagogisches Versprechen, die Kontrolle zu erlangen. Ebenso wie der von der FPÖ geforderte Einwanderungsstopp, die Abschaffung des Euro, die der Front National als Frankreichs einzige Rettung anpreist, oder der Stacheldrahtzaun rund um Ungarn. Die Angst vor dem Kontrollverlust geht quer durch das politische Spektrum, nur die Sündenböcke unterscheiden sich: Die Rechtspopulisten haben ihre islamischen Flüchtlinge, die Linkspopulisten das illoyale Finanzkapital.

Doch das Rad der Zeit lässt sich nicht einfach so zurückdrehen. Weder der Brexit noch eine Rückabwicklung der EU kann etwas daran ändern, dass in Europa – und der ganzen Welt – ein dichtes Netz gegenseitiger Abhängigkeiten geknüpft ist. Das Versprechen von der Rückkehr zur guten, alten Idylle, als alles vertraut und überschaubar war, ist nichts anderes als ein politisches Betäubungsmittel, dessen Dosis immer weiter gesteigert werden muss – bis sich irgendwann kein High-Gefühl mehr einstellt und nur noch der Katzenjammer bleibt.

David Cameron und viele seiner europäischen Kollegen müssen sich allerdings die Frage gefallen lassen, warum so viele Wähler betäubt werden wollen. Es könnte unter Umständen damit zu tun haben, dass die globalisierte Welt des frühen 21. Jahrhunderts nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer produziert. Das auszusprechen, galt lange Zeit als Sakrileg. Jetzt haben sich die Abgehängten und die Dealer gefunden.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2016)

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