Erdoğans Anhänger wittern deutsches Komplott

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SOMALIA-TURKEY-POLITICS-DIPLOMACY(c) APA/AFP/MOHAMED ABDIWAHAB (MOHAMED ABDIWAHAB)
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Der türkische Präsident Erdoğan droht Berlin mit einem Bündel von Strafmaßnahmen. In Ankara kursieren Verschwörungstheorien.

Istanbul. Der Streit zwischen Ankara und Berlin wegen der Armenier-Resolution im deutschen Bundestag spitzt sich weiter zu. Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, bekräftigte seine Attacke gegen türkischstämmige Bundestagsabgeordnete und drohte mit Sanktionen. Sollte die Bundesrepublik die Resolution nicht rückgängig machen, werde Ankara weitaus schärfer reagieren als bisher, sagte er. Der Bundestag in Berlin hatte vor einer Woche die Verbrechen an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs als Völkermord verurteilt. Der türkische Staat bestreitet bis heute beharrlich, dass damals ein Genozid stattgefunden habe.

Türkische Nationalisten forderten nun, die Türkei solle deutsche Soldaten aus dem Land werfen. Die regierungstreuen Medien haben unterdessen die Stimmung gegen Deutschland weiter aufgepeitscht: Wilde Verschwörungstheorien machen die Runde.

Erdoğans Sprecher Ibrahim Kalin sprach von einem Aktionsplan gegen Deutschland, der derzeit innerhalb der türkischen Regierung abgestimmt werde. Einzelheiten nannte Kalin aber zunächst nicht. Präsident Erdoğan blieb ebenfalls vage und verband seine Warnung mit der Forderung, Deutschland solle die von regierungsnahen Zeitungen als „Schand-Gesetz“ bezeichnete Resolution zurücknehmen.

Dabei dürfte der türkische Präsident wissen, dass der Bundestag nicht daran denkt, die eigene Entscheidung unter dem Druck Ankaras zu widerrufen. Erdoğan selbst hatte mit seinen Äußerungen über das angeblich „unreine Blut“ türkischstämmiger Bundestagsabgeordneter für eine Eskalation gesorgt. Er legte nun noch einmal nach und erklärte, mit dem umstrittenen Begriff habe er darstellen wollen, dass es sich um „charakterlose und vaterlandslose Gesellen“ handle, sagte er. Die Zeitung „Hürriyet“ berichtete, eine Gruppe türkischer Abgeordneter habe die elf türkischstämmigen deutschen Abgeordneten wegen „Beleidigung des Türkentums und des türkischen Staats“ angezeigt.

Bundestagspräsident protestiert

Der deutsche Bundestagspräsident, Norbert Lammert, erwiderte am Donnerstag, er hätte solche Äußerungen eines demokratisch gewählten Präsidenten über demokratisch gewählte Abgeordnete „nicht für möglich gehalten“. Auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz protestierte gegen die Äußerungen und verwies auf die freie Mandatsausübung von Abgeordneten als „entscheidender Grundpfeiler unserer europäischen Demokratien“. Erdoğan vermittelt aber nicht den Eindruck, als wolle er von seinem bisherigen Kurs abweichen. Das von ihm angekündigte Maßnahmenpaket könnte nach seiner Rückkehr von einer Auslandsreise in den kommenden Tagen verkündet werden.

Rauswurf der Bundeswehr?

Wirtschaftliche Strafmaßnahmen gegen die Bundesrepublik sind für die Türkei schwierig, weil Deutschland der wichtigste Handelspartner des Landes ist: Im vergangenen Jahr gingen türkische Ausfuhren im Wert von gut 13 Milliarden Dollar in die Bundesrepublik – das sind rund neun Prozent aller Exporte des Landes insgesamt.

Spekuliert wird deshalb über politische Vergeltungsaktionen. So fordert die rechts-nationalistische Oppositionspartei MHP, die Präsenz der Bundeswehr auf dem Fliegerhorst Inçirlik im Süden der Türkei zu beenden. Dort sind derzeit Aufklärungsjets vom Typ Tornado sowie ein Tankflugzeug des deutschen Militärs als Beitrag zum Kampf der internationalen Allianz gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) stationiert.

Möglich sind auch politische Schritte, etwa zur Einschränkung der Arbeit politischer deutscher Stiftungen in der Türkei. Die Vertretungen der parteinahen Stiftungen – Adenauer-, Ebert-, Böll- und Naumann-Stiftung – stehen bei den türkischen Nationalisten schon lang im Verdacht, in der Türkei zu spionieren und Unruhen anzustiften.

„Neuer Kreuzzug“ gegen die Türkei

Erdoğans Anhänger dürften Strafaktionen gegen Deutschland bejubeln. Schon jetzt verbreiten regierungstreue Medien ein Bild der Bundesrepublik als Zentrum des Bösen. Ibrahim Karagül, Chefredakteur des Erdoğan-treuen Blatts „Yeni Şafak“, machte die Deutschen in einem ellenlangen Beitrag unter anderem für die regierungsfeindlichen Gezi-Unruhen des Jahres 2013 verantwortlich. Viele Anhänger Erdoğans sind davon überzeugt, dass sich der Westen gegen ihr Land verschworen hat, weil er den Aufstieg einer muslimischen Führungsmacht unter einem starken Präsidenten nicht hinnehmen wolle.

„Die Türkei steht einem internationalen Komplott gegenüber, wie es die Welt noch nicht gesehen hat“, schrieb Mehmet Metiner, ein Parlamentsabgeordneter der Erdoğan-Partei AKP, in der Zeitung „Star“ vom Donnerstag. „Sie steht einem neuen Kreuzzug gegenüber.“

Metiner präsentierte seinen Lesern die deutsche Armenier-Entscheidung und den Terror der kurdischen Untergrundorganisation PKK als „Teile der von einer höheren Macht gesteuerten Verschwörung“. Ein Dialog mit Deutschland ist in einer solchen Stimmung kaum möglich.

AUF EINEN BLICK

Armenier-Resolution. Nachdem der Bundestag in Berlin die Vertreibung und Tötung der Armenier im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs als Völkermord anerkannt hat, herrscht frostige Stimmung zwischen Berlin und Ankara. Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, hetzt gegen türkischstämmige Bundestagsabgeordnete, Bundestagspräsident Norbert Lammert protestiert gegen die Aussagen. Erdoğan verlangt die Rücknahme der Resolution, andernfalls werde man eine Reihe von Maßnahmen ergreifen. Wie diese aussehen könnten, war zunächst nicht bekannt. Sanktionen auf dem Gebiet Wirtschaft sind unwahrscheinlich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2016)

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