Estland: Ein Staat auf Dauerdiät

Estlands Hauptstadt Tallinn: Auf den ersten Blick mittelalterlich, auf den zweiten sehr modern.
Estlands Hauptstadt Tallinn: Auf den ersten Blick mittelalterlich, auf den zweiten sehr modern.Stefanie Kompatscher
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Estland gilt mit der geringsten Schuldenquote Europas und seiner unbürokratischen Verwaltung als liberaler Musterschüler. Ohne Opfer geht das aber nicht.

Tallinn. Da beginnt es also, das estnische Epos. Zumindest, wenn man der Aufschrift im Erdgeschoß eines unspektakulären Bürogebäudes in einem Neubaugebiet Tallinns Glauben schenken soll. Im E-Estonian-Showroom wird Delegationen aus der ganzen Welt das Land, in dem unter anderem Skype entwickelt wurde, als digitales Wunder verkauft. „Die Presse“ trifft hier den Unternehmer Siim Maivel, der mit seinem Finanz-Start-up Investly dazu beitragen soll, dass das Märchen von E-Estonia weitergeht. Auf die Frage, ob Gründer in Estland staatliche Fördergelder erhalten, legt der 26-Jährige die Stirn in Falten: „Warum sollte der Staat das tun? Subventionen sind doch das Schlimmste, was man einem Gründer antun kann.“

Maivel steht mit seiner Einstellung stellvertretend für viele gut ausgebildete junge Esten, die ihr Glück nicht länger im Ausland, sondern im aufstrebenden Tallinn suchen. Er hat das estnische Narrativ des schlanken, serviceorientierten Staats verinnerlicht. Viljar Lubi, der im Wirtschaftsministerium für ökonomische Entwicklung zuständig ist, fasst die Philosophie zusammen: „Im Grunde dreht sich alles nur um eine Frage: Wie können wir noch weniger tun?“

(c) Die Presse

Dabei macht es Estland Investoren ohnehin schon ziemlich leicht: Ein Unternehmen kann man in 15 Minuten gründen, für eine Steuererklärung benötigt man gerade einmal drei. Dass man in dem baltischen Staat Steuerberater vergebens sucht, hat zwei Gründe. Zum einen hat Estland ein simples Steuersystem mit nur fünf Abgaben und einer 20-prozentigen Flat-Tax auf Einkommen. Außerdem macht eine digitale Identitätskarte Behördengänge unnötig. Wer sich entscheidet, seine Daten online zu verwalten, erhält über die Chipkarte Zugang zu einem ausgefüllten Steuerformular. Etwa 600.000 der rund 1,3 Millionen Esten nutzen das System, mit dem sie auch auf ihr Bankkonto oder ihre Krankengeschichte zugreifen können.

Alles wird ausprobiert

„Eine Studentin hat mich vor Kurzem gefragt, wie ein Dokument händisch unterschrieben wird. Sie habe das schon seit Jahren nicht mehr gemacht“, erzählt Robert Krimmer der „Presse“. Der Vorarlberger ist Professor für E-Governance an der Technischen Universität Tallinn. Warum Estland anderen Ländern so weit voraus ist? Die technischen Voraussetzungen gebe es auch in Österreich, sagt Krimmer. Aber: „In Estland probiert man einfach alles aus, was geht“ – vom E-Voting bis zum neuesten Handyparksystem. Datenschutzbedenken gibt es kaum. Deshalb prägen auch Überwachungskameras und nicht Polizisten das Stadtbild im mittelalterlichen Tallinn.

Der effiziente Staatsapparat schlägt sich in der Statistik nieder: Nur 10,3 Prozent der Staatsausgaben fließen in die allgemeine öffentliche Verwaltung. So niedrig ist der Wert sonst nirgendwo in der EU. Dagegen liegt Estland bei der Bildung (15,4 Prozent) im europäischen Spitzenfeld. Insgesamt belaufen sich die Staatsausgaben auf 38,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, der Eurodurchschnitt liegt um zehn Prozentpunkte höher.

Fast schon wie eine Religion gepredigt wird in Estland das Nulldefizit. Die Staatsschulden sind 2015 wieder auf unter zehn Prozent des BIPs gesunken, kein anderes EU-Land hat einen so geringen Schuldenstand. Warum man es nicht anderen gleichtut? Schulden bedeuten Abhängigkeit, so die einfache Erklärung der Regierung. Aber alles hat seinen Preis: Während im boomenden Tallin annähernd Vollbeschäftigung herrscht, bleiben Menschen in den ländlichen Gegenden oder Angehörige der teils schlecht integrierten russische Minderheit zurück. Viele fragen sich auch, wie Senioren mit einer staatlichen Pension von monatlich 375 Euro überhaupt über die Runden kommen.

Sparen auch in Krisenzeiten

Doch Estland bleibt hart, auch in Krisenzeiten: Als die Wirtschaft 2009 um 14,7 Prozent eingebrochen ist, reagierte Estland mit einem harten Sparkurs. Die Beamtengehälter wurden um 20 Prozent gekürzt, der Kündigungsschutz gelockert, die Arbeitslosenrate schnellte in die Höhe. Aber die Staatsschulden schrumpften sogar. Nachdem sich die Wirtschaft langsam wieder erholte, kam gleich die nächste Bewährungsprobe: Denn ausgerechnet Estland, das sich mit eiserner Disziplin nach nur sieben Jahren EU-Mitgliedschaft 2011 in die Eurozone sparte, musste für Griechenland zahlen. Obwohl der Unmut in der Bevölkerung groß war, wurde die liberale Regierung wiedergewählt. Und auch die Russland-Sanktionen, die Landwirtschaft und Fischerei in die Krise gestürzt haben, nimmt das Land gelassener hin als andere EU-Länder.

„Die Esten sind immer noch eine homogene Gemeinschaft“, sagt der Österreicher Krimmer, der seit zweieinhalb Jahren in Tallinn lebt. Im kleinen Land kenne jeder jeden über ein paar Ecken und wer es darauf anlegt, könne sogar den Premier auf ein Bier treffen. Vieles funktioniere deshalb unbürokratischer und schneller, man vertraue einander. Und vermutlich sind die Esten auch deshalb nicht so zimperlich, weil es nicht viel gibt, auf das sie gern zurückblicken: In 800 Jahren war das Land gerade einmal 50 Jahre lang nicht fremdbestimmt. Heute hat man die sowjetische Vergangenheit hinter sich gelassen – und sich gleichzeitig wirtschaftlich von der EU abhängig gemacht. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht auch etwas verständlicher, dass so mancher Este derzeit nicht Moskau als größte Bedrohung wahrnimmt, sondern die Flüchtlingskrise. Dabei will Estland gerade einmal 550 Flüchtlinge innerhalb von zwei Jahren aufnehmen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2016)

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