Denken ohne Gehirn

Der Schleimpilz, manchen Wanderern auch als Hexenbutter bekannt, hat nur eine Zelle, aber viele Hexenkräfte.
Der Schleimpilz, manchen Wanderern auch als Hexenbutter bekannt, hat nur eine Zelle, aber viele Hexenkräfte. Dave Pressland / FLPA / picturedesk.com
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Viele Einzeller zeigen hohe Intelligenz, sie orientieren sich damit in Raum und Zeit, sie lernen. Und sie lösen Probleme, für die wir Computer brauchen.

Von A nach B kommt man leicht, auch C lässt sich noch ohne Probleme in den Reiseplan integrieren. Wenn aber die Zahl der Ziele weiter steigt, ist unser Gehirn auf der Suche nach der optimalen Route so rasch überfordert, dass das Ganze als „Problem des Handelsreisenden“ in die Fachliteratur einging – da helfen nur noch höhere Mathematik bzw. ausgefeilte Algorithmen. Aber einer schafft es ganz ohne Hirn, er kann keines haben, denn er besteht aus einer einzigen Zelle: Physarum polycephalon, der Schleimpilz. Seinem deutschen Namen entspricht er nur halb, er ist kein Pilz – auch keine Pflanze und kein Tier, sondern eine Amöbe, die seit 700 Millionen Jahren alle Unbill überstanden hat. Schleim allerdings ist er, und wie: Er kann sich über riesige Flächen ausdehnen, im Labor liegt der Rekord bei 5,5 Quadratmetern. In der Natur gibt es noch größere, manchen Wanderern sind sie als Hexenbutter vertraut.

Das mit der Butter stimmt nicht, das mit dem Hexen eher: Auf der Futtersuche etwa wandern Schleimpilze einen Zentimeter pro Stunde. Wie? Sie sind mit Leitungsbahnen zur Ver- und Entsorgung durchzogen, diese lassen sich verkürzen und verlängern, verengen und erweitern. Das treibt sie auch voran, so können sie ganz ohne Beine gehen. Denken können sie ebenso ganz ohne Gehirn: Wenn sie herumtasten, meiden sie alle Stellen, an denen sie schon waren. Dort haben sie etwas Schleim hinterlassen, er erinnert sie, er ist ein ausgelagertes Gedächtnis, wie man es sonst etwa von Ameisen kennt, die Wege zum Futter mit Duft markieren.

Damit beginnt der Reigen der Hexenkräfte aber erst: Setzt man einen Schleimpilz in ein quadratisches Labyrinth, das zwei Tore hat und überall am Boden mit Futter ausgestattet ist, breitet er sich auf der ganzen Fläche in der Form des Quadrats aus. Wenn das Futter sich neigt und nur noch an den Toren Nachschub kommt, wandelt er seine Gestalt, wird zu einem Faden, der die beiden Tore auf dem kürzesten Weg miteinander verbindet.

So löst er das Problem des Handelsreisenden, Toshiyuki Nakagaki (Sapporo) zeigte es erst im Grundsatz (Nature 407, S. 470), später verfeinerte er es und platzierte auf dem Labortisch Futter – Haferflocken – dort, wo auf dem Stadtplan von Tokio die Bahnstationen sind: Bald bildete der Schleimpilz ein „Streckennetz“, das frappant jenem glich, das mit aller Raffinesse des Menschengeistes ausgetüftelt worden war (Science 327, S. 439).


Kluge Kolibakterien. Der Hexer orientiert sich nicht nur im Raum, sondern er hat auch ein Gefühl für Zeit, kann aus Erfahrung lernen und Künftiges kommen sehen. Das können andere Einzeller auch, Kolibakterien: Sie wechseln oft den Lebensraum, leben einmal in Gedärmen, etwa von Rindern, und gehen dann mit den Fladen ab. Auf der Wiese gibt es Sauerstoff, auf ihn müssen sie sich einstellen. Geraten sie ins Maul einer grasenden Kuh, müssen sie wieder umlernen: Im Gedärm ist kein Sauerstoff. Darauf bereiten sie sich beizeiten vor: Sie stellen ihren Stoffwechsel schon im Maul der Kuh um, da ist es warm, dieses Signal verarbeiten sie. Wenn man alles umdreht und auf Wärme Sauerstoff folgen lässt und auf Kühle keinen, lernen sie das auch.

Das Experiment ist Saed Tavazoie (Princeton) zu verdanken (Science 320, S. 1313), ein ähnliches hat Yitzak Pilpel (Rehovot) mit Bierhefe durchgeführt (Natur 460, S. 220). Allerdings lernten in beiden Fällen nicht Individuen, es brauchte mehrere Generationen. Darauf weisen Kritiker gern hin, denen die ganze Geschichte von der Intelligenz von Einzellern suspekt ist. Nakagaki sieht es lockerer, unter Berufung auf die japanische Kultur, die Intelligenz nicht so strikt auf Menschen limitiert: Für ihn ist sie „Selbstorganisation, in der Information verarbeitet wird“. Er bewundert auch in Fachpublikationen den Schleimpilz gern als „smart“ – und vergleicht die nächste Leistung, die er fand, mit jener der Ägypter, als sie bemerkten, dass das Hochwasser des Nil periodisch kommt. Daraus entwickelten sie eine Grundlage der Zivilisation: den Kalender.

Auch in Nakagakis Labor kam etwas periodisch, das Gegenteil von Hochwasser: Dürre, im Stundentakt, dreimal hintereinander. Jedes Mal stellten die Schleimpilze ihr Wachstum ein. Sie taten es auch nach der vierten Stunde, obgleich es da nicht trocken wurde, und nach der fünften auch, erst dann verblasste die Erinnerung (Physical Review Letters 100, 018101).

Was fehlt noch zur Intelligenz? Das Sich-an-etwas-Gewöhnen: Wenn man etwa die Meeresschnecke Aplysia taktil reizt, ohne ihr weiter etwas zu tun, reagiert sie bald nicht mehr. Das hat Eric Kandel – der Wiener Emigrant, der anno 2000 einen Nobelpreis erhielt – vor bald 50 Jahren gezeigt (Science 167, S. 1740), seitdem gehört Gewöhnung (habituation) zu den Definitionsmerkmalen von Lernen. Der Schleimpilz erfüllt es: Versperrt man ihm mit bitteren Substanzen wie Chinin oder Koffein (in harmlosen Dosen) den Weg zum Futter, schreckt er erst zurück, nach sechs Tagen hat er sich daran gewöhnt. Aber nicht an alles: Wenn er auf Chinin nicht mehr reagiert, verstört ihn überraschendes Koffein zunächst, dann gewöhnt er sich auch daran. Ist plötzlich von beidem nichts mehr da, entwöhnt er sich, beim nächsten Auftauchen lernt er wieder neu (Proc. Roy. Soc. B 27. 4.).

Das Experiment stammt von Audrey Dussutour (Toulouse), nicht von Nakagaki, er hat sich einem anderen Hexer zugewandt: Tetrahymena, das ist ein Wimperntierchen, das im Wasser lebt. Wenn es nur einen kleinen Tropfen zur Verfügung hat, stößt es bald nicht mehr an die Wand und schwimmt nur in engstem Kreis. Setzt man es dann in einen größeren Behälter, bleibt es zunächst bei diesem Muster, erst allmählich holt es weiter aus. An diesem handlicheren Wesen will Nakagaki klären, was der Schleimpilz noch nicht preisgab: die molekularen Mechanismen des Gedächtnisses von Einzellern (Interface 25. 5.). Dafür nutzt Tetrahymena vermutlich einen mechanosensitiven Ionenkanal, einen für Kalzium. Er erweitert sich, wenn das Tier irgendwo anstößt, dann strömt mehr Kalium hinein. Das wiederum beeinflusst die Schwimmrichtung: Ist keines da, geht es gerade aus, steigen die Konzentrationen, geht es in immer engeren Kreisen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2016)

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