Brexit: "Die Folgen wären ziemlich schlecht bis sehr, sehr schlecht"

Union Jack auf einem Tisch
Union Jack auf einem TischAPA/AFP/LEON NEAL
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Kein Tag, an dem die Briten nicht vor den Folgen eines EU-Ausstiegs gewarnt werden. Das bedeutet aber nicht, dass die Menschen im Königreich sich von einem Austritt abhalten lassen.

In der Debatte um die Zukunft Großbritanniens in der EU hat die Realität längst die Satire überholt. Zuletzt erschien das Satiremagazin „Private Eye“ mit Premierminister David Cameron und Schatzkanzler George Osborne auf dem Cover. Dabei sagt Cameron: „Es könnte einen Weltkrieg geben“, worauf Osborne erwidert: „Oder noch schlimmer: Die Hauspreise könnten fallen.“ In einem Interview mit der Zeitung „Mail on Sunday“ erklärte Cameron wenig später: „Der Ausstieg aus der EU würde für die Wirtschaft einen Schock bedeuten und eine der Folgen wäre die Gefahr höherer Hypothekarzinsen.“

Osborne fügte gegenüber der „Sunday Times“ hinzu: „Wenn wir die EU verlassen, wird unser Land ärmer, wird es Unsicherheit auf den Finanzmärkten geben und das wird die Kosten für Wohnungskredite nach oben treiben.“ Die durchschnittlichen Kosten bezifferte das Pro-EU-Lager mit fast 1000 Pfund im Jahr pro Kreditnehmer. In dem Land, das „My home is my castle“ zur Religion erhoben hat, träfe das Millionen Menschen.

Die ökonomischen Folgen eines Brexit sind ganz klar das Hauptargument der Befürworter der EU. Von der Weltwirtschaft über die britische Volkswirtschaft (immerhin die fünftgrößte der Welt) bis zur Geldbörse des kleinen Bürgers spannt sich der Bogen der Warnungen. Und der Chor könnte einstimmiger nicht sein: Neun von zehn Ökonomen betrachten einen EU-Ausstieg als negativ für die britische Wirtschaft. In den Worten der Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde: „Die Folgen würden von ziemlich schlecht bis sehr, sehr schlecht reichen.“

45 Prozent der Exporte in die EU. Die EU ist der wichtigste Handelspartner Großbritanniens. Rund 45 Prozent aller britischen Exporte gehen in die EU. Die Teilnahme am Gemeinsamen Markt erlaubt abgabenfreie Ein- und Ausfuhren, zudem ersparen Harmonisierungen und gemeinsame Standards den Exporteuren Milliarden. 3,3 Millionen Arbeitsplätze in Großbritannien, etwa zehn Prozent der Gesamtzahl, sind nach offiziellen Angaben vom Handel mit der EU abhängig.

Auch die Mehrheit der britischen Einfuhren, zuletzt rund 53 Prozent, kommt aus der EU. Traditionell hat Großbritannien ein Handelsdefizit mit der Union, das allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres einen Rekordwert von 23,9 Milliarden Pfund erreicht hat. Die EU-Gegner schließen daraus, dass die Union nach einem Ausstieg der Briten an einer Fortsetzung der für sie vorteilhaften Handelsbeziehungen interessiert sein wird. „Sie brauchen uns mehr, als wir sie brauchen“, meint der konservative Abgeordnete Philip Davies. Deutschland werde weiter seine Autos, Frankreich seinen Champagner und Italien seinen Parmesan an die konsumhungrigen Briten verkaufen. Die EU-Befürworter halten dem entgegen, dass die britischen Exporte in die EU 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) des Landes ausmachen, während die restlichen 27 EU-Länder weniger als drei Prozent ihres gemeinsamen BIPs ins Vereinigte Königreich ausführen. Die Union habe daher kein Interesse, den Briten nach einem Ausstieg entgegenzukommen.


500.000 Jobs gefährdet. Großbritannien werde erst neue Wirtschaftsabkommen aushandeln müssen, die das Land im Durchschnitt 6,2 Prozent der Wirtschaftsleistung und jeden Haushalt 4300 Pfund (5480 Euro) kosten könnte, sagt die Regierung. Entsprechend würden 500.000 Arbeitsplätze verloren gehen und das Land in eine Rezession schlittern, während verminderte Steuereinnahmen von bis zu 45 Milliarden Pfund den Staat zu weiteren Sparpaketen zwingen würden. Ein Teufelskreislauf entstünde.

Die Brexit-Befürworter weisen dies als Angstmacherei zurück. In der Bevölkerung sind unterdessen längst Ermüdungserscheinungen gegenüber der Flut an Warnungen vor dem Brexit eingetreten. Erstmals sagte nun eine Mehrheit in einer Umfrage, sie würde selbst bei wirtschaftlichen Nachteilen für den Ausstieg stimmen.

Zu solchen wird es laut den Ankündigungen des Brexit-Lagers aber gar nicht kommen. Ihr Anführer Boris Johnson versprach zuletzt „300.000 neue Arbeitsplätze durch mutige neue Handelsabkommen mit wachsenden Märkten, wenn wir die Ketten, die uns an Brüssel binden, abwerfen“.

Kritiker wenden ein, dass derartige Abkommen nicht über Nacht zustande kommen und die EU-Gegner kein tragfähiges Modell einer wirtschaftlichen Zukunft außerhalb der Union haben. „Unsinn zur Potenz“, nannte Cameron zuletzt Johnsons wirtschaftspolitische Aussagen.


Die OECD warnt. Tatsache ist, dass die Unsicherheit um die Zukunft Großbritanniens in der EU sich bereits negativ bemerkbar macht. Unternehmen stellen Investitionsentscheidungen zurück, Bauvorhaben werden auf die lange Bank geschoben und der Arbeitsmarkt stagniert. „Die Unsicherheit ist Gift“, sagt ein Banker.

Großbritannien ist der zweitgrößte Empfänger von Direktinvestitionen der Welt nach den USA. Ein Anreiz ist der Zugang zum Gemeinsamen Markt. Seit 2003 sind 83,9 Milliarden Dollar ins Land geflossen. Heute blicken sich ausländische Investoren nach Alternativen um.

Das Pfund bleibt nach einem starken Rückgang volatil, die Versicherungsprämien gegen Kursschwankungen sind auf dem höchsten Stand seit dem Wirtschaftscrash 2008. Zuletzt nahm die OECD ihre Wachstumsprognose für das Land von 2,1 auf 1,7 Prozent zurück und warnte vor globalen Auswirkungen: „Die Folgen wären so negativ wie ein steiler Wirtschaftsabschwung in China.“


Kleinbetriebe gegen die EU. Besondere Sorge gilt der Zukunft der City of London, dem Finanzzentrum Europas (und der Welt) mit einer Bruttowertschöpfung im Jahr 2014 von 45 Milliarden Pfund. Auch wenn Großbritannien nicht Euromitglied ist, werden in London nach den sogenannten Passporting-Regeln die meisten Transaktionen in der gemeinsamen Währung durchgeführt. Von den rund 285.000 Jobs im britischen Finanzsektor sind nach Schätzungen des Chefs der London Stock Exchange, Xavier Rolet, bei einem Brexit bis zu 100.000 in Gefahr. Banken machen kein Geheimnis daraus, dass sie Angeboten aus Paris, Dublin und Frankfurt Gehör schenken. Die EU-Gegner aber meinen: „Das sind dieselben Leute, die uns in den Euro führen wollten.“ Zuletzt behaupteten sie auch, als EU-Mitglied werde Großbritannien weiter für Länder wie Griechenland mitzahlen müssen – auch wenn Cameron dagegen ausdrücklich ein Veto einlegte.

Während alle Wirtschaftsverbände für die EU-Mitgliedschaft sind, herrschen unter den Sektoren offene Differenzen. Für die EU sind die Großindustrie, High- und Biotech-Unternehmen, der Finanzsektor und Exporteure. Gegen die EU sind viele Kleinbetriebe, nur auf dem heimischen Markt tätige Mittelständler und Landwirte, obwohl ihre eigene Interessenvertretung für die Mitgliedschaft eintritt und sie einen Großteil ihres Einkommens aus Brüsseler Zahlungen beziehen. Das Brexit-Lager verspricht, die Zuwendungen aus dem eingesparten Mitgliedsbeitrag von netto rund neun Milliarden Pfund (0,5 Prozent des BIPs) zu ersetzen.

Die Versprechungen an diverse Sektoren von Landwirtschaft bis Wohnbau und für staatliche Aufgaben wie Gesundheit oder Verteidigung belaufen sich mittlerweile nach Zählung des Institute for Fiscal Studies auf 40 Milliarden Pfund.

Ein besonders zugkräftiges Argument der Gegner sind die angeblichen Kosten der EU-Regulierungen, obwohl die britische Wirtschaft nach einer Studie der London School of Economics die am wenigsten regulierte Europas ist. Von 33 Milliarden Pfund Kosten im Jahr sprach der konservative Abgeordnete Andrew Tyrie vor einem Parlamentsausschuss unter Hinweis auf den Thinktank Open Europe (siehe Interview). Was er nicht erwähnt hat: Das (EU-kritische) Institut bezifferte zugleich die Vorteile aus harmonisierten Vorschriften mit 58,6 Milliarden Pfund.

3,3

Mio. Arbeitsplätze
sind nach offiziellen Angaben vom Handel mit der EU abhängig.

83,9

Mrd. Dollar
sind seit 2003 nach Großbritannien geflossen.

1,7

Prozent
lautet die Wachstumsprognose der OECD für Großbritannien. Bis vor Kurzem ist
sie noch mit 2,1 Prozent beziffert worden.

Neun von zehnÖkonomen betrachten einen EU-Ausstieg als negativ für die britische Wirtschaft.

45 Prozentder Exporte der Briten gehen in die EU. Diese ist damit der wichtigste Handelspartner. Bloomberg

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2016)

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