Fußballfest ohne Feierstimmung

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FBL-EURO-2016-FANZONEAPA/AFP/GEOFFROY VAN DER HASSELT
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Politische Krise, Streiks und die Terrorangst drohen Frankreich die Freude an der Europameisterschaft zu verderben.

Es hätte schlechter anfangen können. Mit dem Zittersieg gegen Rumänien im Stade de France am Freitag haben „Les Bleus“ im Eröffnungsmatch ihre Chancen auf einen EM-Sieg gewahrt. Die Franzosen dürfen damit dank ihres zusätzlichen Vorteils als Heimmannschaft sogar weiterhin als Favoriten gelten. Dieser gelungene Anfang der Fußball-Europameisterschaft hat die sonst eher gedrückte Stimmung merklich gehoben. Die Miesmacher, die eine Blamage für unvermeidlich hielten, weil in Frankreich sowieso alles bergab gehe, sind vorerst zumindest etwas stiller geworden. Dagegen wird der traditionelle französische Patriotismus wieder laut.

Irgendwie hat man aber trotzdem den Eindruck, dass die Leute in diesem Land wie aus Vorsicht geduckt bleiben, als müssten sie die nächste Katastrophe antizipieren. In zahlreichen Kommentaren heißt es immer wieder, hinter der Fassade des Sports spiele wie ein unsichtbarer Gegner die Angst mit bei diesem Turnier. Jeder Spieltag, der ohne schwere Zwischenfälle über die Bühne geht, ist für die Organisatoren der Fußball-EM in Frankreich ein Stein mehr, der ihnen vom Herzen fällt.

Im Vordergrund steht dabei die Sicherheit: Rund 100.000 Polizisten, Militärs und Beschäftigte privater Firmen sollen mit strengsten Kontrollen das Risiko von Attentaten auf ein Minimum reduzieren. Doch einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht.

Selten mussten sich die nationalen Veranstalter und die Uefa-Verantwortlichen solche Sorgen um den Ablauf einer EM machen. In den Tagen vor dem Beginn schien sich alles gegen sie verschworen zu haben: Das Land steht nach wochenlangen Protesten gegen eine Arbeitsmarktreform am Rande der Revolte, und eine Einigung ist nicht in Sicht. Der Konflikt kann jederzeit eskalieren.

Wenn am Dienstag die umstrittene Vorlage vor den Senat kommt, wird es erneut heiß hergehen, mit landesweiten Streiks und Demonstrationen. Dass dabei auch die Fußballfans und insbesondere die Besucher aus dem Ausland behindert werden und in der Folge wohl nicht den besten Eindruck des Gastlands mit nach Hause nehmen, ist offenbar kein Grund für die Streikenden bei der Bahn, bei der Air France, bei der Müllabfuhr oder in den Atomkraftwerken, das Kriegsbeil zu begraben – und sei es auch nur für die Zeit der EM.

Holland sagt Nein. Die Staatsführung bleibt ebenso stur. Präsident François Hollande kann bitten, beten, schimpfen und an die nationale Solidarität der Gewerkschaften appellieren – niemand hört auf ihn. Die Regierung hatte zu Beginn der Debatte über die Reform Zugeständnisse gemacht, jetzt will und kann sie nicht nachgeben. Jeder weitere Schritt zurück wäre eine Kapitulation vor dem Ultimatum der Gewerkschaft CGT, die diesen Kampf gegen die Anpassung der Sozialpartnerschaft anführt und daraus eine entscheidende Kraftprobe machen will. Die CGT und ihre Verbündeten wissen, dass es um ihren Einfluss und historische Errungenschaften wie die 35-Stunden-Woche geschehen ist, wenn die Reform durchkommt. Darum sind Gegnern dieser Revision des Arbeitsrechts alle Mittel recht, die ihnen zur Verfügung stehen.

Die französische Wirtschaft begann sich gerade erst langsam mit einer bescheidenen Wachstumsrate von der Krise zu erholen. Der Anteil der registrierten Vollzeitarbeitslosen ist nach wie vor bei fast zehn Prozent der aktiven Bevölkerung, erstmals werden netto wieder 150.000 Arbeitsplätze geschaffen. Noch vor ein paar Wochen schöpften die Franzosen, die sonst so pessimistisch wie keine andere Nation in Europa auf die Zukunft schauen, zaghaft Hoffnung.

Wiederwahlträume. François Hollande, dessen Popularität längst auf dem Tiefpunkt angelangt war, begann sich sogar ernsthaft zu überlegen, ob er im Frühling 2017 nicht doch für eine Wiederwahl antreten könnte. Das war wohl nur ein Traum. In Wirklichkeit hat er im Verlauf der Auseinandersetzung nur allzu deutlich bewiesen, dass er dafür nicht einmal im eigenen Lager die nötige Autorität und das erforderliche taktische Fingerspitzengefühl besitzt.

Wie kann man es sich anders erklären, dass er erst am Ende seines fünfjährigen Mandats und ausgerechnet wenige Monate vor der seit Jahren geplanten EM eine explosive Reform aus der Schublade zog? Er hätte wissen müssen, dass solche grundlegenden Änderungen in den Kräfteverhältnissen zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften und generell liberal inspirierte Strukturreformen für die klassenkämpferische CGT eine existenzielle Herausforderung bedeuten.

Zudem weiß man doch, dass in Frankreich jede Neuerung, die unterschiedliche Interessen tangiert, einen ebenso heterogenen Widerstand auf den Plan ruft. Mehrfach waren so (rechte wie linke) Regierungen an diesem typisch französischen Willen zur Bewahrung des Bestehenden gescheitert.


Auf die Barrikaden. Bezeichnend ist zudem, dass auch heute wieder laut Umfragen eine Mehrheit aus den verschiedensten Motiven gegen die Arbeitsmarktreform ist, wie sie derzeit noch debattiert wird. Doch weder die Staatsführung noch die CGT auf der Gegenseite sind populär. Das ist der andere Aspekt der Nein-Mehrheit, die in Frankreich jede Änderung so sehr erschwert – bis manchmal die Zustände so unerträglich werden, dass am Ende das Volk auf die Barrikaden steigt.

Die Regierung verfolgt in diesem Klima eine gefährliche Taktik: Sie versucht erstens die Protestierenden zu spalten, denen es mittlerweile nicht nur um die Arbeitsmarktreform geht, sondern auch um Lohnforderungen und andere Anliegen. Das spielt die Regierung in der öffentlichen Meinung aus, um diese Aktionen zu diskreditieren.

Zweitens hofft sie, dass am Ende selbst den Militantesten unter den Streikenden die Luft ausgeht. Diese Zermürbung aber geht auf Kosten der Moral der Bevölkerung, die – wie das Beispiel der bestreikten Müllabfuhr in drastischer Weise zeigt – die Konsequenzen dieses Abnutzungskrieges tragen muss. Beide Seiten in diesem Konflikt tragen zudem die Verantwortung, wenn der reibungslose Ablauf der Fußball-EM durch diese Kraftprobe beeinträchtigt wird. Außerhalb der Stadien ist diese Spannung deutlich. Man rechnet mit dem Schlimmsten: nicht zuletzt auch mit Terroranschlägen oder gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Fans und Hooligans.

Als das Hochwasser vor Tagen weite Teile des Landes überschwemmte, schrieb „Le Parisien“ angesichts des allgemeinen Klimas: „Das hatte uns gerade noch gefehlt!“ Dasselbe Urteil wäre erst recht angebracht, wenn Frankreichs politische Krise die ganze Freude am Fußballfest verderben sollte.

fakten

Rund 100.000Polizisten, Militärangehörige und Angehörige privater Sicherheitsfirmen sollen die Stadien und Fanzonen der EM sichern. Die Anschlagsgefahr für das bis zum 10. Juli dauernde Turnier gilt als hoch.

1,5 Millionen Fans aus dem Ausland und mindestens eine Million aus Frankreich werden zu den Fußballspielen erwartet.

Vier Tage soll der Ausstand der Piloten von Air France dauern, der am Samstag zum EM-Auftakt aus Protest gegen das Gehaltssystem begann. Auch die Müllabfuhr streikt. Am Dienstag soll es einen Tag des nationalen Protests gegen die Arbeitsmarktreform geben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2016)

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