Angst vor Migration dominiert die Brexit-Debatte

Sunderland Is A Bellwether For How Much People Want To Leave The EU
Sunderland Is A Bellwether For How Much People Want To Leave The EU(c) Bloomberg (Simon Dawson)
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Die massive Zuwanderung der vergangenen zehn Jahre ist in Großbritannien zum wichtigsten Argument der EU-Austrittsbefürworter geworden. Nicht ganz zu Recht.

London. Wenn ein Thema für das Brexit-Referendum in Großbritannien entscheidend ist, dann ist es die Zuwanderung. Sie steht auf der Liste der Sorgen der britischen Bürger ganz weit oben und spielt derzeit vor allem den Betreibern der EU-Austrittskampagne in die Hände. „Sie spielen eine gefährliche Trumpfkarte, die wir alle noch bereuen werden“, sagt der frühere britische Premierminister John Major und wirft dem Brexit-Lager eine Kampagne der Täuschungen und das Schüren sozialer Spannungen vor.

Die Austrittsbefürworter weisen das von sich und werfen ihren Gegnern „eine hochmütige Herablassung der Eliten gegenüber den wahren Sorgen der Menschen“ vor, wie es Brexit-Anführer Michael Gove formuliert. Der starke Zustrom nach Großbritannien bedeute massiven Druck auf Gehälter, Schulen, Gesundheitswesen (siehe Kasten) und Infrastruktur. „Wir müssen die Kontrolle über unsere Grenze zurückgewinnen“, schrieb das Austrittslager in dem Massenblatt „The Sun“.

Tatsächlich scheint niemand ganz genau zu wissen, wie viele Ausländer mittlerweile in Großbritannien leben. Das Land hat kein Meldewesen. Nachdem Großbritannien bei der EU-Erweiterung 2004 als einziges Land neben Irland auf Übergangsfristen verzichtet hatte, strömten Hunderttausende Menschen ins Land. Heute geht man davon aus, dass 3,3 Millionen EU-Bürger in Großbritannien leben. Die Menschen kamen zunächst vorwiegend aus Osteuropa. Polen stellen heute nach Indern die zweitgrößte nicht im Land geborene Volksgruppe. In den vergangenen Jahren ist verstärkter Zuzug aus den südeuropäischen Krisenstaaten Italien, Spanien und Griechenland hinzugekommen. Während dort die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent und mehr liegt, herrscht in Großbritannien die niedrigste Arbeitslosenrate und die höchste Beschäftigungsrate seit Jahrzehnten. Zuwanderer werden nicht nur in den Arbeitsmarkt absorbiert, sie schaffen zunehmend auch neue Jobs: Nach Angaben des Innenministeriums wurde im Vorjahr jeder siebente neue Betrieb von einem Immigranten gegründet, die damit 14 Prozent der neuen Stellen geschaffen haben.

Nettozahler bei Sozialleistungen

Auch das Argument, dass die Einwanderer als Lohndrücker dienen, hält der konkreten Überprüfung nicht stand. Der Ökonom Jonathan Portes bezeichnet solche Auswirkung als minimal und errechnete einen Betrag von „ungefähr einem Pence (0,007 Euro) pro Stunde“. Ebenso erwiesen ist, dass die Zuwanderer ein Vielfaches mehr an Steuer- und Sozialleistungen an den Staat abführen, als sie an Leistungen bekommen. Nach einer Studie des University College London haben Immigranten im Zeitraum von 2001 bis 2011 insgesamt 20 Milliarden Pfund (25,3 Mrd. €) netto in die Sozialtöpfe eingezahlt, während britische Bürger 617 Milliarden Pfund (780 Mrd. €) netto herausbekamen. Jill Rutter vom Institute for Public Policy Research meint: „Immigranten kommen wegen der Arbeit, nicht wegen der Sozialleistungen.“

Während in der heilen Welt der Forscher alles gut und schön scheint, finden im Alltag die Klagen kein Ende. Das hat damit zu tun, dass die Zuwanderung extrem ungleich verteilt und auf den Südosten Englands und viele Küstenstädte konzentriert ist. Hier greifen Slogans wie „Wir wollen die Kontrolle über unsere Grenzen zurück“ am besten. Einwanderung wird hier nicht als Gewinn, sondern als Bedrohung wahrgenommen.

Als Alternative propagieren die EU-Austrittsbefürworter ein Punktesystem nach australischem Vorbild, das Einwanderer nach Qualifikation, Sprachkenntnissen und Nachfrage einstuft. Die neue Regelung soll sofort nach dem 23. Juni in Kraft treten, „wenn das automatische Recht von EU-Bürgern, nach Großbritannien zu kommen, erlischt“, fordert Justizminister Gove. Dass Australien eine höhere Pro-Kopf-Einwanderung hat als Großbritannien, erwähnt er nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2016)

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