Berlin und Paris wollen die EU im Falle eines Briten-Austritts zusammenhalten. Merkel warnt vor Binnenmarktausstieg.
Wien/Brüssel/Berlin. Die jüngsten Umfragen zum britischen EU-Referendum am Donnerstag kommender Woche lassen auch in Deutschland und Frankreich die Alarmglocken schrillen: Nach einem Treffen mit seinem Amtskollegen aus Paris mahnte der deutsche Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, am Mittwochabend vor einer „Erschütterung für die EU. Wir müssten aufpassen, dass der jahrzehntelange Prozess der Integration nicht in Desintegration mündet“, sagte er. Beide Minister bekräftigten ihre Absicht, der Union „eine neue Dynamik“ zu verleihen, wie Jean-Marc Ayrault sagte. Gemeinsam wolle man das einwandfreie Funktionieren der Staatengemeinschaft sicherstellen. In den vergangenen Tagen hat das Brexit-Lager in Großbritannien neuen Aufschwung erfahren, die EU-Gegner liegen derzeit in den meisten Umfragen voran. Die beiden Minister hoffen dennoch, „dass die Mehrheit in Großbritannien die richtige Entscheidung fällt“, so Steinmeier nach den Beratungen in Brandenburg an der Havel. „Und die richtige Entscheidung kann aus unserer Sicht nur sein, in Europa zu bleiben.“
Auch Deutschlands Kanzlerin, Angela Merkel, meldete sich gestern zu einem möglichen EU-Austritt der Briten zu Wort. Großbritannien würde in so einem Fall den Zugang zum gemeinsamen Markt verlieren, mahnte sie. Alle Aspekte des Binnenmarktes stünden „natürlich für Großbritannien dann nicht mehr zur Verfügung“, sagte die Kanzlerin am Donnerstag nach einem Treffen mit dem slowakischen Ministerpräsidenten, Robert Fico, in Berlin.
London müsste sich zudem darauf einstellen, an Verhandlungen, die die 28 EU-Staaten derzeit gemeinsam führten, nicht mehr beteiligt zu werden. Es werde dann als Drittstaat behandelt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein Vorteil wäre“, erklärte Merkel trocken.
Tusk befürchtet politisches Chaos
In ähnlicher Weise äußerten sich am gestrigen Donnerstag die EU-Spitzen. Dem Austritt würden sieben Jahre politisches Chaos und Ungewissheiten folgen, twitterte Ratspräsident Donald Tusk. „Das Vereinigte Königreich ist ein Schlüsselstaat in der EU.“ Es gebe so viele Dinge, die man zusammen machen könne. „Jetzt auszuscheiden ergibt überhaupt keinen Sinn“, sagte der ehemalige polnische Regierungschef. Würde Großbritannien in der EU bleiben, könnten innerhalb eines Jahres die von Premier David Cameron durchgesetzten Neuerungen im Verhältnis des Vereinigten Königreichs zu Brüssel fixiert werden. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte, wenn Großbritannien die EU verlasse, werde eine „Phase großer Ungewissheit eingeläutet“, was es zu vermeiden gelte. Allerdings sei die EU ohne Großbritannien nicht in „Lebensgefahr“.
Auch die britische Zeitung „Financial Times“ bezog am Donnerstag klar Position gegen den Brexit: Anders als das Boulevardblatt „The Sun“, das zwei Tage zuvor für den EU-Austritt geworben hatte, warnte die „FT“ vor einer Isolierung und den wirtschaftlichen Konsequenzen eines Brexit. (red./ag.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2016)