Zum ersten Mal seit Verhängung der Sanktionen reiste die EU-Führung nach Russland. In der Sanktionsfrage blieb Kommissionspräsident Juncker hart. Aber offenbar will er andere Türen öffnen.
St. Petersburg. Wenn zwei zankende Russen einander prügeln wollen und dazu auf die Straße gehen, so heißt das im Russischen, sie gehen ihre „Beziehung klären“. Auf die Straße ging man in St. Petersburg gestern zwar nicht. Dafür ins neue Expo Forum Convention Centre nahe dem Flughafen. Die Beziehung, die man dort im Rahmen des Internationalen Wirtschaftsforums klären wollte, ist die mit der EU. Nicht nur die gesamte russische Elite inklusive Kreml-Chef Wladimir Putin war gekommen. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker flog ein, nachdem sich die EU seit Verhängung der Sanktionen vor zwei Jahren nicht mehr auf dem jährlichen Forum, Russlands wichtigstem Wirtschaftsereignis, gezeigt hatte. Und auch jetzt seien einige EU-Staaten gegen seine Teilnahme gewesen, ließ Juncker wissen. Er aber sei „froh, hier zu sein“.
Wer erwartet hatte, dass damit das erste Eis in Sachen Sanktionen gebrochen wird, wurde freilich enttäuscht. Juncker war in St. Petersburg so dezidiert wie kaum zuvor: Eine Aufhebung der Sanktionen setze voraus, dass die Minsker Vereinbarungen für Frieden in der Ukraine vollständig umgesetzt werden. „In diesem Punkt ist sich die EU sehr einig“, sagte er – auch hinsichtlich seines Zusammentreffens mit Putin, das zu Redaktionsschluss noch im Gang war.
Suche nach Normalität
Aber nur weil sich bei den Sanktionen nichts tut, heißt das nicht, dass die Welt zwischen Moskau und Brüssel weiterhin stillsteht. „Allein die Tatsache, dass Juncker da ist und öffentlich auftritt, ist eine wichtige Botschaft“, sagt Frank Schauff, Chef der Association of European Businesses in Russland, zur „Presse“. Das ermutigt auch die Firmen, die aufgrund der Sanktionen und der Rezession in Russland seit zwei Jahren massive Rückgänge im Russland-Geschäft haben.
Ein Hauch von Optimismus wehte gestern über dem Forum, zu dem 600 russische und 500 ausländische Konzernvertreter aus 60 Staaten gekommen waren – zwei Drittel mehr als ein Jahr zuvor. Alle beschäftigt neben dem Verhältnis Russlands zur EU die Frage, ob Putin auf seiner heutigen Rede die Bereitschaft zu einem lang erwarteten Reformweg bekundet. Für die Wirtschaft sind diese Punkte längst wichtiger als die Sanktionen. Und auch die EU sucht dem Vernehmen nach jenseits der Sanktionen bereits andere Anknüpfungspunkte mit Russland, um eine Form von Normalität herzustellen. So kam Juncker gestern mit seiner EU-Vizepräsidentin, Kristalina Georgiewa, und mit Kommissar Günther Oettinger. Im Gepäck hatten sie unter anderem ein Paket zum Energiethema, das für die Russen essenziell ist, so ein hochrangiger deutscher Wirtschaftsvertreter im Gespräch.
Nicht zufällig preschte gestern auch Gazprom-Chef Alexej Miller auf dem Forum vor und erklärte, wie viele Milliarden durch den umstrittenen Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 ins deutsche Greifswald gespart werden können: Auf die nächsten 25 Jahre gerechnet, betrage der Spareffekt zwischen 25 und 47 Mrd. Dollar (41,8 Mrd Euro), so Miller. Die neue Pipeline, an der neben deutschen Konzernen auch die österreichische OMV beteiligt ist – sie war gestern übrigens mit mehreren Vorständen und dem Aufsichtsratschef in Petersburg vertreten –, erlaube es Gazprom, bis 2020 etwa 4300 Kilometer veralteter Leitungen auf dem Transitweg Richtung Ukraine stillzulegen.
Weitere Infos:www.diepresse.com/europa
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2016)