„Wir haben mit dem Kontinent wenig gemein“

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Laut dem britischen Historiker David Abulafia ist es eine Fehleinschätzung, dass sein Land Teil eines gemeinsamen Europas sein müsse. Er sieht Chancen für ein neues dichtes Handelsnetz mit Commonwealth-Staaten.

Die Presse: Warum sind Sie der Ansicht, dass Großbritannien außerhalb der EU besser aufgehoben wäre?

David Abulafia: „Besser aufgehoben“ impliziert eine ökonomische Bewertung. So weit ich weiß, gibt es diesbezüglich unterschiedliche Prognosen. Mir geht es aber nicht so sehr um die wirtschaftlichen Folgen eines EU-Austritts, die sich ohnehin schwer vorhersehen lassen, sondern um das politische Arrangement der EU. Also darum, inwieweit dieses Arrangement – konkret die zunehmende Einmischung des Europäischen Gerichtshofs und die Gesetzesinitiativen der EU-Kommission – die Souveränität des britischen Parlaments beeinträchtigt. Mittlerweile sind wir Briten nicht mehr selbst für unser Schicksal verantwortlich.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber, dass Großbritannien nicht stark genug ist, um seine Interessen in Brüssel zu verteidigen. Warum sollte den Briten außerhalb der EU gelingen, was ihnen als Klubmitglied zuvor nicht gelungen war?

Es gibt einen Unterschied zwischen der Mitgliedschaft in einem Klub mit 28 und der vollen Souveränität, die es möglich macht, eigene Handelsabkommen abzuschließen, eine eigene Fischereipolitik zu haben und so weiter. Es stimmt, dass wir am europäischen Verhandlungstisch nicht ohne Einfluss waren, nichtsdestotrotz sind sich Großbritannien und die EU im Lauf der vergangenen Jahre fremder geworden. Wir machen weder beim Euro noch bei Schengen mit. Die Bevölkerung ist generell europaskeptischer. Auch viele Politiker, die sich jetzt für den Verbleib Großbritanniens in der EU starkmachen, sind eigentlich zutiefst skeptisch.

Aber ist diese Darstellung der EU als anonymes, bürokratisches Monster nicht ein Klischee?

Natürlich haben alle EU-Mitglieder von ihrer Mitgliedschaft auch profitiert. Das Problem ist nur, dass sich hinter all den praktischen Verbesserungen eine Obsession namens Europäisches Integrationsprojekt verbirgt: Die Briten wollten niemals Teil dieses Projekts sein. Es ist durchaus anmaßend, den Europäern einreden zu wollen, sie hätten eine gemeinsame Identität.

Und was ist den Europäern gemeinsam?

Die Gründerväter der Union haben wohl nicht daran gedacht, dass Länder wie Spanien, das damals von General Franco regiert wurde, einmal dazugehören könnten. Das damals vorherrschende Schema war der Ost-West-Konflikt. All das haben wir ja mittlerweile hinter uns gelassen. Es gibt das Gefühl eines gemeinsamen kulturellen Erbes, aber Großbritannien fällt da etwas heraus, weil es als Empire seine nationale Kultur und sein politisches und rechtliches System nach Übersee hinausgetragen hat. Was das auf dem Common Law basierende britische Rechtsverständnis anbelangt, haben wir mehr gemein mit Australiern und Neuseeländern als mit Kontinentaleuropäern, deren Referenzpunkte das Römische Recht und der Code Napoléon sind.

Sie haben Australien und Neuseeland angesprochen. Beide Länder raten Großbritannien zum Verbleib in der EU.

Brüssel braucht unendlich lang, um Handelsabkommen zu verhandeln. Vermutlich hätten wir als EU-Outsider ein dichter geknüpftes Handelsnetz mit den Commonwealth-Staaten.

Im Brexit-Lager heißt es, Großbritannien könne sich außerhalb der EU freier entfalten, zugleich wollen viele Befürworter des EU-Austritts nicht mehr wirtschaftliche Freiheit, sondern mehr Schutz vor ausländischer Konkurrenz. Ist das nicht ein Widerspruch?

Das ist nicht mein Eindruck. Das Argument lautet, dass Großbritannien schneller bessere Handelsabkommen mit dem Rest der Welt abschließen kann, als dies innerhalb der EU möglich ist. Schließlich sind wir die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Außerdem glaube ich, dass wir nach dem Austritt ein vorteilhaftes Angebot von der EU bekommen werden. Momentan werden in Brüssel zwar Drohungen ausgesprochen, doch schlussendlich wird es auch im Interesse der EU sein, sich mit uns ähnlich zu arrangieren wie mit Norwegen oder der Schweiz. Das Wichtigste dabei wird sein, dass Großbritannien von der Pflicht zum freien Personenverkehr entbunden ist. Bei Debatten über den europäischen Binnenmarkt geht man immer davon aus, dass der freie Personenverkehr integraler Bestandteil ist. Die EU sollte endlich zur Einsicht gelangen, dass Niederlassungsfreiheit auch handfeste Nachteile hat. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In Großbritannien arbeiten viele Ärzte aus Lettland und Polen, was für uns natürlich vorteilhaft ist. Was aber sollen die dortigen Bevölkerungen machen, deren Ärzte nach Westen auswandern?

Zum Beispiel Ärzte aus der Ukraine holen, wie dies in Polen bereits passiert.

Wir erzeugen also einen Dominoeffekt. Der Personenverkehr ist ein explosives Thema, weil hier Vorurteile hineinspielen können.

Ein vorteilhaftes Arrangement nach dem Brexit würde aber das von Ihnen angesprochene Souveränitätsproblem nicht lösen. Sowohl Norwegen als auch die Schweiz müssen sich an die EU-Spielregeln halten.

Das stimmt, allerdings wäre der Umfang der Spielregeln, die dann befolgt werden müssten, deutlich geringer.

Der Austritt Großbritanniens würde die EU, die ja nicht nur ein gemeinsamer Markt, sondern auch ein historisches Friedensprojekt ist, massiv beschädigen...

... und ich glaube, dass das keine schlechte Sache wäre. Europa muss endlich zur Kenntnis nehmen, dass der Euro ein Desaster ist, dass Schengen nicht funktioniert, dass die EU-Bürokratie den Bezug zur Realität verloren hat. Brexit wäre ein Schock, doch die EU braucht einen heilsamen Schock. Sonst fällt sie ganz auseinander.

ZUR PERSON

Der Historiker
David Abulafia
ist Professor für Mittelalterliche Geschichte an der University of Cambridge. Er ist Vorsitzender der Organisation Historians for Britain. [ University of Camebridge]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2016)

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