Bei den Sanktionen befinde sich Europa in der Geiselhaft der USA, sagte der Kreml-Chef gestern in Petersburg. Die EU soll an einer neuen Wirtschaftsunion mit China teilnehmen.
St. Petersburg. Wladimir Putin liebt es groß. Wenn schon mit der Europäischen Union kein Durchbruch in Sachen Aufhebung der Sanktionen gelingt, dann nützt er das hochkarätige Publikum auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg eben dafür, quasi en passant die Schaffung einer neuen Eurasischen Wirtschaftsunion anzukündigen. Es sei geplant, „im Juni gemeinsam mit unserem chinesischen Partner die Verhandlungen zur Schaffung einer umfassenden Handels- und Wirtschaftspartnerschaft“ zwischen der bestehenden Eurasischen Union und China offiziell zu starten, sagte er gestern. Die bestehende Eurasische Union ist ja auf Staaten der ehemaligen Sowjetunion beschränkt.
Aber Putin hat noch Größeres im Blick, wie er im Beisein seines europäischen Ehrengastes, des italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi, zu verstehen gab: Er rief nicht nur seine Nachbarstaaten auf, bei dem Projekt mitzumachen, an dem schon etwa 40 Staaten Interesse gezeigt hätten, sondern auch die Europäische Union.
Bevor es jemals so weit kommt, sind freilich noch gänzlich andere Schwierigkeiten zu lösen, die klein erscheinen mögen, aber größer sind, als es beiden Seiten recht sein mag. Was den Ausweg aus dem gegenseitigen Sanktionenkarussell betrifft, so sagte er gestern, auf die EU zugehen zu wollen. „Wir sind nicht nachtragend und sind dazu bereit, unseren europäischen Partnern entgegenzukommen. Aber das kann natürlich keine Einbahnstraße sein.“ Die EU bleibe der zentrale Handelspartner für Russland.
Am Vortag hatte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker mit aller Deutlichkeit signalisiert, dass vor einer Aufhebung der vor zwei Jahren eingeführten Sanktionen zuerst die Minsker Vereinbarung erfüllt werden müssten – der Ball also bei den Russen läge. Kommende Woche will die EU über eine Verlängerung der Wirtschaftssanktionen entscheiden. Russland bleibt bei seinem Narrativ, dass die EU von Anfang an nicht eigenständig gehandelt habe, sondern nach der Pfeife der Amerikaner tanze. Den Amerikanern würden die Sanktionen nicht schaden, von ihren europäischen Partnern aber erwarten sie Geduld, ätzte er: „Warum die Europäer Geduld haben, verstehe ich nicht.“
Läge es an Renzi, würden die Sanktionen schon bald aufgehoben weren, wie aus seinem Gespräch mit der Nachrichtenagentur TASS hervorgeht. Das trifft auch auf die westliche Geschäftswelt zu, die dieses Jahr wieder in größerer Zahl nach Petersburg gekommen ist. Es ist ein leises Comeback, ein vorsichtiges Vortasten, ein Ausloten, was geht und was gehen könnte.
Leise Kooperationen
Die neuen Fäden werden nicht in den großen Auftritten gesponnen, sie werden im Stillen geknüpft, zumal die Wirtschaftsvertreter etwa von deutschen Regierungskreisen angehalten wurden, den Ball in Petersburg vorerst flach zu halten.
Einen erfrischenden Ausbruch wagte gestern Günther Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft, der auf einem Panel Russland eine Kooperation auf dem Gebiet von Industrie 4.0 bzw. 5G-Mobilfunktechnik anbot und damit großen Beifall erntete. Auch Oettinger denkt groß und sieht Osteuropa inklusive Russland und Türkei als Großraum, auf dem künftig jene Wertschöpfung erreicht werden könne, die verhindern soll, dass Europa zwischen den USA und China aufgerieben werde, wie er sagte.
Digitalisierung als neuer Strang, an dem man gemeinsam zieht, weil in der Sanktionenfrage nichts weitergeht? Im Gespräch mit der „Presse“ deutet Oettinger an, dass auf diesem politikfernen Gebiet aufgebaut werden könne, zumal sich die Russen hier anlehnen wollen.
„Wirtschaft ohne Politik“ bzw. „Wirtschaft trotz Politik“ ist in Petersburg zum Slogan und zur Krücke geworden, auf die man sich stützt. Die andere ist, dass die Sanktionen als temporär schöngeredet werden. Das alles griff auch Putin auf, als er der EU vor Augen hielt, dass die europäische Wirtschaft zur Arbeit mit Russland bereit sei. Und dass die Politik der Wirtschaft entgegenkommen müsse.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2016)