„Dann machen wir so mürrisch weiter und geben Brüssel die Schuld“

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Der britische Politikwissenschaftler Tim Bale über die innenpolitischen Ursachen des Referendums, den überbordenden Populismus der Debatte und die Folgen für Großbritannien.

Die Presse: Warum regt sich Großbritannien so über die EU auf? Wie konnte es passieren, dass ein interner Streit unter den Konservativen über ein Thema, das die meisten Wähler so gut wie ignorierten, zu einer Schicksalsfrage für die Zukunft des Vereinigten Königreichs wurde?

Tim Bale: In der konservativen Partei war Europa immer ein Streitthema. Selbst als die Parteiführer in den frühen 1960er-Jahren entschieden, dass wir der EWG beitreten sollen, gab es Gegner. Sie wurden immer lauter, bis die Kritik an Europa zum Glaubensgrundsatz wurde.

Premierminister Cameron wollte dann aber den Streit ein für allemal beilegen?

Ja, aber in Wirklichkeit machte er die Sache noch schlimmer, indem er zunächst versprach, die Partei aus der Europäischen Volkspartei zu führen und danach einen Referendumsriegel für jeden weiteren Kompetenztransfer nach Brüssel zu schaffen. Der harte Kern der EU-Gegner erkannte, dass sie ihm noch mehr Zugeständnisse abringen konnten. Letztlich hat es allein damit zu tun, dass Cameron die Tory Party befrieden musste und nichts mit dem nationalen Interesse des Landes.

Das Lager der EU-Befürworter hoffte, dass die Frage der wirtschaftlichen Zukunft Großbritanniens die Volksabstimmung zu ihren Gunsten entscheiden würde. Warum hat das offenbar nicht funktioniert?

Die EU-Befürworter haben die Menschen nicht überzeugen können, dass sie persönlich einen wirtschaftlichen Preis für den Austritt bezahlen werden, selbst wenn sie verstehen, dass es abstrakte Risken gibt. Nur wenn das Verbleib-Lager die Risken auf den letzten Metern noch personalisieren kann, könnte seine Taktik doch noch aufgehen.

Vertrauen die Menschen noch irgendjemandem?

Das Vertrauen in Politiker ist heute noch geringer, als es zu Beginn der Kampagne war.

Umgekehrt, warum war das Setzen des Ausstiegslagers auf das Thema Einwanderung so viel erfolgreicher?

Sie greifen damit das mit den meisten Emotionen behaftete Thema der britischen Politik auf. Es bestehen weit verbreitete kulturelle und ökonomische Ängste allein über die Zahl der Menschen, die in den vergangenen zehn Jahren nach Großbritannien gekommen sind.

Erleben wir so etwas wie einen Volksaufstand gegen das bestehende politische System, die Eliten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch gegen Ausländer?

Es gibt ein starkes Element des Populismus in der ganzen Auseinandersetzung: Die Behauptung, dass die Menschen von einer Art von liberalem, oder sogar neoliberalem, Kartell betrogen worden sind, das einfach nicht kapiert, dass die Menschen ein Ende der Einwanderung und der angeblichen Einmischung aus Brüssel verlangen. Sie sind wütend, dass sie in den vergangenen zehn Jahren finanzielle Einbußen erlitten.

Kann diese Bewegung, der es um weit mehr als nur um die Ablehnung der EU geht, die alte Ordnung zerstören?

So weit würde ich nicht gehen. Wenn wir die EU verlassen, wird es aber sicher alles durcheinanderwirbeln. Andererseits könnte es das Ende von UKIP bedeuten: Welchen Grund gibt es noch für diese Partei, wenn die Konservativen die meisten ihrer Positionen übernommen haben?

Wir hörten Aussagen über die „halb kenianische Herkunft“ von US-Präsident Barack Obama, angeblich drohende Sexattacken durch Zuwanderer, 76 Millionen Türken auf dem Weg nach Großbritannien etc. Legt das Referendum die dunkle, fremdenfeindliche, sogar rassistische Unterseite Großbritanniens offen?

Seien wir ganz offen: Die konservative Partei hat die längste Zeit des 20. Jahrhunderts damit verbracht, diese fundamentalen Ängste auszubeuten und – mit Ausnahme von ein paar Jahren – macht sie dasselbe bis heute. Viele aufseiten der Rechten sehen das Hochspielen von Ängsten vor Einwanderung und Multikulturalismus als Trumpfkarte gegen die Linken.

Keine Seite hat eine glaubhafte positive Vision für die Zukunft Großbritanniens präsentiert. Was entscheidet: Abrechnung mit der Vergangenheit oder Versprechen für die Zukunft?

Volksabstimmungen neigen zur Bewahrung des Status quo. Man könnte also erwarten, dass Risikoabneigung über Visionen triumphiert. Aber nicht unbedingt über Nationalismus und Zukunftsangst. Daher ist der Ausgang völlig offen.

Was geschieht, wenn die EU-Befürworter gewinnen?

Dann machen wir so mürrisch weiter wie bisher und geben Brüssel für alles die Schuld, statt uns selbst sehr genau zu prüfen. Wir werden von einer gespaltenen konservativen Partei regiert werden, die sich keine wirklichen Sorgen machen muss, irgendeines der fundamentalen Probleme des Landes anpacken zu müssen, weil ihr eine hoffnungslose Labour Party gegenübersteht.

Und was geschieht, wenn die EU-Gegner gewinnen?

Die Wirtschaft erleidet Schaden. Wir werden erkennen, dass alle Versprechen des Brexit-Lagers in den Sand geschrieben waren. Wir werden erkennen, dass wir einen Fehler gemacht haben, aber weil es keinen Rückweg gibt, machen wir das Beste daraus – weniger mächtig, weniger reich, aber kaum ein Entwicklungsland.

ZUR PERSON

Tim Bale ist Professor für Politikwissenschaft an der Queen Mary University of London.

Sein Spezialgebiet ist die Parteipolitik. Er gilt als einer der besten Kenner der jüngeren Geschichte der britischen Konservativen.

Sein Buch „The Conservative Party from Thatcher to Cameron“ erscheint im September in einer aktualisierten Neufassung.

Zugleich schreibt Bale regelmäßig Gastbeiträge für die „Financial Times“ und den „Guardian“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2016)

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