Brexit: Projekt Angst gegen Projekt Hass

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Emotionen dominieren den Abschluss der Kampagnen. Die Debatte ist extrem scharf geworden, da es tatsächlich noch um jede einzelne Stimme geht.

London. Project Fear gegen Project Hate, Angst gegen Hass – entlang dieser zwei Fronten werden sich die Briten beim heutigen Referendum über den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union entscheiden müssen. Die letzte große Debatte, die das öffentlich-rechtliche Flaggschiff BBC One Dienstagabend in der mit rund 6000 Zuschauern gut gefüllten Wembley Arena veranstaltet hatte, brachte keine dramatische Wende – dafür aber einige griffige Slogans. Die Befürworter des Brexit hatten die Kampagne der britischen EU-Freunde, in deren Mittelpunkt die wirtschaftlichen Folgen eines EU-Austritts stehen, bereits vor einiger Zeit als Projekt Angst punziert. Am Dienstag konterte Sadiq Khan, der neue (und pakistanischstämmige) Bürgermeister von London, der als Mitglied des dreiköpfigen Remain-Teams in Wembley gegen drei Europagegner antrat: Das ständige Heraufbeschwören von Gefahren, die angeblich von Migranten ausgingen, sei nichts anderes als ein Projekt Hass, warf Khan seinem bürgermeisterlichen Vorgänger Boris Johnson vor. Der Star der Brexit-Kampagne ließ sich dadurch nicht einschüchtern und rief die britischen Wähler (in Anspielung auf den gleichnamigen Hollywood-Blockbuster) dazu auf, am heutigen „Independence Day“ für den Abschied von der Union zu votieren.

Die Briten ließen sich vom rhetorischen Feuerwerk in der Wembley Arena allerdings nicht wirklich beeindrucken. Eine Blitzumfrage, die das Institut YouGov im Auftrag der Tageszeitung „Guardian“ nach der Fernsehsendung (mit knapp vier Millionen Zusehern) durchgeführt hatte, ergab einen Stand von 41 Prozent für Remain zu 40 Prozent für Leave – wobei den Brexiteers eine marginal bessere Performance attestiert wurde. Die heutige Abstimmung dürfte also verdammt knapp werden – sofern nicht alle Meinungsforscher danebenliegen. Die „Financial Times“, die ein sogenanntes Poll of Polls durchführt, also alle vorhandenen Umfrageergebnisse auswertet und gewichtet, kam am gestrigen Mittwoch auf einen Stand von 45 Prozent für den EU-Austritt zu 44 Prozent für den Verbleib.

Doch zurück zum Projekt Hass: Das Leitmotiv der Brexit-Kampagne war stets die Kritik an der angeblichen Überfremdung und dem unkontrollierbaren Zustrom von Migranten. In der Tat hat Premierminister David Cameron sein Versprechen, die jährliche Zuwanderung auf „einige Zehntausend“ zu beschränken, nicht halten können – im Vorjahr wurden (wieder einmal) mehr als 300.000 Neuankömmlinge gezählt. Auffallend in dem Zusammenhang ist aber, dass der (klassisch populistische) Ruf nach einem Einwanderungsstopp bei den Wählern so gut ankommt. Noch vor zwei Jahren hatte der Politikwissenschaftler Matthew Goodwin von der University of Kent das maximale populistische Wählerreservoir, das die offen EU-feindliche United Kingdom Independence Party (UKIP) ausschöpfen könnte, mit rund 30 Prozent beziffert – heute kann offenbar rund die Hälfte der Wähler dem Kernlanliegen von UKIP Positives abgewinnen.

Goodwin selbst erklärt diese Entwicklung im Gespräch mit der „Presse“ einerseits mit einer guten Kampagne der Brexit-Befürworter, andererseits aber damit, dass die regierenden Tories Postulate des UKIP-Chefs Nigel Farrage übernommen und die Rechtspopulisten damit aufgewertet hätten. Unabhängig vom Ausgang des Referendums werde die Europaskepsis bei den Konservativen weiter zunehmen. Und der prognostizierte knappe Wahlausgang werde dazu führen, dass „eine große Zahl der Wähler sehr enttäuscht“ sein werde. Goodwins wenig zuversichtliches Fazit: „Wie Großbritannien nach dem Referendum wieder zusammenfinden soll, ist mir schleierhaft.“

Was sagte die Queen beim Dinner?

Zum Abschluss setzten beide Lager ihre jeweils schwersten Geschütze ein. Das Boulevardblatt „Sun“, das den Brexit befürwortet, brachte die Queen auf der Titelseite – die „Sun“-Reporter wollen in Erfahrung gebracht haben, dass die beliebte Monarchin bei einem Dinner ihre Gäste gebeten haben soll, ihr „drei gute Gründe“ zu nennen, warum Großbritannien in der EU verbleiben soll – um daraus die Schlussfolgerung abzuleiten, Queen Elizabeth sei insgeheim für den Brexit. Aus dem Buckingham Palace hieß es, wie üblich, man wolle Berichte über private Konversationen nicht kommentieren.

David Cameron wiederum appellierte in einer letzten Stellungnahme an den britischen Kampfgeist: „Brits don't quit“, die Briten geben nicht auf. Es war eine Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg, als Großbritannien nach der französischen Kapitulation 1940 dem Dritten Reich ohne Verbündete standgehalten hatte. Sollten die Wähler für den Austritt stimmen, sei dieses Votum, entgegen anders lautenden Behauptungen der EU-Gegner, unwiderrufbar: „Man kann nicht in großer Höhe aus dem Flugzeug springen und anschließend versuchen, zurück in das Cockpit zu klettern“, so der Premier.

ZEITPLAN

Heute, Donnerstag. Ab 8 Uhr (MEZ) stimmen die Briten über die EU-Mitgliedschaft ab. Die Wahllokale sind bis 23 Uhr (MEZ) geöffnet. Unmittelbar danach beginnt die Auszählung der Stimmen.

Morgen, Freitag. Bis spätestens 5 Uhr früh (MEZ) wird in der nationalen Wahlkommission in Manchester das Ergebnis der Auszählung verkündet.

In Brüssel werden die Spitzen der EU-Institutionen um 11 Uhr über das Ergebnis beraten.

Nächste Woche. Am Dienstag und Mittwoch treffen die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel zusammen. Es wird erwartet, dass bei diesem Gipfel mit Premierminister David Cameron die weitere Vorgangsweise beraten wird – entweder die Umsetzung der bereits zugesagten Sonderregeln oder der Austrittsfahrplan.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2016)

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