Und was jetzt, Europa?

Die Briten wollen raus aus der EU, wie reagiert die Union, wie muss sie reagieren?
Die Briten wollen raus aus der EU, wie reagiert die Union, wie muss sie reagieren?REUTERS
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Großbritannien hat über die EU-Mitgliedschaft abgestimmt. Ungeachtet dessen muss Europa eine neue Form der Zusammenarbeit finden.

Wien. Das britische EU-Referendum hat eine Debatte über die Zukunft der Union eröffnet. „Was in Großbritannien auch immer passiert: Wir müssen Europa grundlegend verändern.“ Europa brauche einen Neustart, sagte der französische EU-Kommissar Pierre Moscovici. Nach der Finanz-, Schulden- und Flüchtlingskrise ist klar, dass die EU ihre von der Bevölkerung gewünschten Aufgaben nicht erfüllt. Viel wurde in der britischen Brexit-Debatte über die Schuldfrage diskutiert, wenig über Lösungsansätze. Wohin soll sich die Europäische Union entwickeln? „Die Presse“ fasst ohne Bewertung die möglichen Optionen zusammen.

Stärkere Zusammenarbeit

Um schwierige Herausforderungen wie die Flüchtlingskrise gemeinsam in den Griff zu bekommen, müssten wieder nationale Interessen hinter Gemeinschaftsinteressen zurücktreten. Die EU müsste in demokratisch glaubwürdiger Form zu einem aktiven Staatenbund aufgewertet werden. Ein Schutz der Außengrenze durch gemeinsame Sicherheitskräfte und einheitliche Standards müsste die illegale Einwanderung beenden und zu einer effizienten Trennung von chancenreichen Asylwerbern und Wirtschaftsflüchtlingen führen. Eine gemeinsame Einwanderungspolitik, gemeinsame Verträge mit Transitländern unter Wahrung der völkerrechtlichen Verpflichtungen müssten das Chaos der vergangenen Jahre ersetzen. In der Finanz- und Schuldenkrise müssten neue Instrumente zur Kontrolle und Stärkung der Stabilität entwickelt werden.

Gründung eines Kerneuropa

„Das Europa der 28 ist nicht regierbar.“ Zu diesem ernüchternden Befund kam kürzlich der frühere französische Präsident Valery Giscard d'Estaing – und die jüngere Geschichte der Union scheint ihm recht zu geben: Die Mitgliedstaaten tun sich bei der Entscheidungsfindung schwer, weil die Interessen in wichtigen Fragen wie der gemeinsamen Außenpolitik, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit oder der Asyl- und Migrationspolitik völlig unterschiedlich gelagert sind. Je drängender ein aktuelles Problem schnelles Handeln erfordern würde, desto langsamer mahlen die Mühlen im Getriebe der Staatengemeinschaft. Die Lösung dieses Problems könnte in der Entwicklung eines Kerneuropa liegen, an dem nur noch jene Mitgliedstaaten teilnehmen, die eine engere Zusammenarbeit in bestimmten Politikbereichen anstreben. Die Initiative für ein solches Projekt müsste von den beiden größten Mitgliedstaaten, Frankreich und Deutschland, ausgehen, glaubt Giscard. Ob sich die bessere Abstimmung auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik beschränken soll, in erster Linie also die 19 Länder der Euro-Gruppe und andere willige Mitgliedstaaten betrifft, oder aber langfristig auch eine politische Integration angestrebt wird, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Binnenmarkt-Europa

Gelingt die stärkere politische Zusammenarbeit nicht, weil sich eine zu große Zahl an Mitgliedstaaten ihr verweigern, müsste die EU zur Gänze auf den Binnenmarkt reduziert werden. Vor allem unter den britischen Tories wird eine solche Option schon lang beworben. Auch andere, wirtschaftsliberale Kräfte mit nationaler Orientierung bevorzugen sie. Der Plan ist freilich schwerer umzusetzen, als es erscheint. Denn ein Binnenmarkt verlangt zahlreiche gemeinsame Regeln, verlangt nach gemeinsamen Außenhandelsbeziehungen, nach einer gemeinsamen Politik in den zuständigen Weltorganisationen, die allesamt einen nationalen Alleingang beschränken würden. Schon heute umfassen die Binnenmarktregeln fast 90 Prozent der gemeinsamen Gesetzgebung. Für einen funktionierenden Binnenmarkt ist zudem weiterhin ein gemeinsamer Gerichtshof notwendig. In einigen Feldern, wie der Sicherheitspolitik, dem Grenzschutz oder in der Währungspolitik, würde dieses Modell für die einzelnen Staaten zudem teurer kommen als die bisherige Kooperation in der EU. Allein das Ende des Schengen-Abkommens und der Wiederaufbau einer nationalen Grenzsicherung würden jedes Land Milliarden kosten. Auch die derzeit von der EU gemeinsam subventionierte Landwirtschaft müsste sich dem Wettbewerb des Binnenmarkts öffnen.

Auflösung der EU

Seit Jahren jagt in der Union eine Krise die nächste – und selbst für die größten Optimisten fällt auch eine Auflösung der europäischen Staatengemeinschaft längst nicht mehr in den Bereich des Unmöglichen. Austrittstendenzen gibt es in mehreren Mitgliedstaaten, EU-kritische Parteien sind europaweit im Aufwind. Der Grund: Vielerorts haben die Bürger das Vertrauen in den Mehrwert einer EU-Mitgliedschaft verloren. Besonders die Flüchtlingskrise hat auf dramatische Weise offenbart, dass einzelne EU-Länder sich lieber auf nationales Terrain zurückziehen, als im Sinn Europas gemeinsame Lösungen zu suchen. Die Stimmung im eigenen Land ist für viele Staats- und Regierungschefs der wichtigste Gradmesser, an dem sie ihr Tun und Handeln ausrichten. Kein Wunder also, dass europäische Entscheidungsträger seit Langem darauf hinweisen, dass die Gefahr eines EU-Zerfalls real sei. Allerdings ist die völlige Auflösung der Union weniger wahrscheinlich als eine Rückentwicklung zu einer Freihandelsgemeinschaft oder die Gründung eines Kerneuropa. Sie würde zu neuem nationalen Protektionismus und letztlich zu neuen Handelsschranken führen. Die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Weltregionen würde sich reduzieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2016)

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