Eine schwierige Beziehung als Normalzustand

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Großbritannien war nie ein einfaches Mitglied der EU. Auch, weil es ihm von Beginn an nicht einfach gemacht wurde. Die Geschichte als Basis eines Neuanfangs.

Diesen Abend im Dezember 1962 sollte Harold Macmillan nicht mehr vergessen. Der britische Premier war zu einem Diner auf Schloss Rambouillet eingeladen. Im ehemaligen Landsitz von Ludwig XVI. im Südwesten von Paris erwartete ihn ein festlich gedeckter Tisch für zwei Personen. Sein Gastgeber, Staatspräsident Charles de Gaulle, war lang charmant geblieben, bis er zu später Stunde den Ton wechselte. Großbritanniens EWG-Beitritt, so erklärte der selbstbewusste General, liege nicht im Interesse Frankreichs. Macmillans Einwände prallten ab. Man ging kühl auseinander.

„Großbritannien hat den europäischen Zug um gut fünf Jahre wegen eigener Unentschlossenheit versäumt, und um 16 Jahre wegen französischer Widerstände“, schreibt der ehemalige britische EU-Botschafter Stephen Wall in einem Beitrag für das European Policy Center. Zweimal – 1963 und 1967 – verhinderte Frankreich den Beitritt. Begründet wurde das von De Gaulle mit Londons angeblicher „tiefsitzender Feindschaft gegenüber dem europäischen Integrationsprojekt“. Wahr ist freilich auch, Frankreichs Führung sah die Gemeinschaft als ihr ureigenes Projekt, in das es zwar den ehemaligen Erzfeind, Deutschland, einbinden, nicht aber die Macht mit einem anderen historischen Konkurrenten teilen wollte.

Selbst nachdem die Briten 1973 der Gemeinschaft doch noch beigetreten waren, behielten sie das Image eines geduldeten Sonderlings. Diese Rolle war ihnen von Beginn an aufgezwungen worden. Sie waren die Weltmacht im Abstieg, deren Stolz angeblich eine starke Solidarität mit Resteuropa verhindere. Tatsächlich war ihr Zugang deutlich pragmatischer als jener Frankreichs. Die Briten seien der „Idee eines Europa als moralischem Projekt zur Einigung und Friedenswahrung viel weniger verbunden gewesen als andere Länder“, behauptet der Historiker Robert Tombs von der Cambridge University.

Dass es mit Großbritannien in einem gemeinsamen Europa schwierig werden könnte, hat bereits Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi geahnt. Als er 1922 seine Idee für eine europäische Staatengemeinschaft in der „Presse“ veröffentlichte, sah er darin für zwei europäische Großmächte keinen Platz: für Russland und für Großbritannien, deren Sicherheits- und Machtpolitik er für inkompatibel hielt.

Erstes Austrittsreferendum 1975

Als hätten sie all die Vorurteile bestätigen wollen, stimmten die Briten bereits zwei Jahre nach dem Beitritt erstmals über einen Austritt ab. 1975 versuchte Labour-Premier Harold Wilson über ein solches Referendum, seine Partei zu einen. 67 Prozent der Wähler entschieden sich damals für einen Verbleib. Doch das eindeutige Votum brachte nicht das Ende der zwiespältigen Beziehung.

Wenige Jahre später, am 20. März 1984, war es abermals ein Schloss, auf dem die Spannungen eskalierten. Bei einem Gipfeltreffen auf Val-Duchesse nahe Brüssel trug die britische Regierungschefin Margaret Thatcher ihre Forderungen nach einem Rabatt bei den Zahlungen an die EG vor. Die Eiserne Lady, die beim Referendum 1975 noch vehement für einen Verbleib in der Gemeinschaft gekämpft hatte, spielte alte Ressentiments aus, die wie ein Beleg für Londons unversöhnliche Haltung wirkten. Sie erinnerte Staatspräsident François Mitterrand an den verlorenen Kampf der Franzosen im Zweiten Weltkrieg. Damals hätten die Briten durchgehalten, „als Sie auf dem Kontinent schon zusammengebrochen waren“. Sie richtete sich auf, funkelte in Richtung Mitterrand. Und dieser verlor nun auch die Contenance: „Sie gehen zu weit, Madame.“

Für britische Politiker war in der Gemeinschaft nicht bloß das Hier und Jetzt von Bedeutung, sondern stets auch der historische Kontext – die Würde und ihr Streben nach einer besonderen Form der Gerechtigkeit. Weil ihr Land weniger Förderung für die Landwirtschaft aus Brüssel erhielt, setzte Thatcher einen Rabatt in der Höhe von 66 Prozent des Nettobeitrags durch. „Die Europäer wären erleichtert, wenn Großbritannien wieder austreten würde“, schnaubte damals der griechische Regierungschef Andreas Papandreou. Die Eiserne Lady hatte gesiegt, aber das Verhältnis zur Gemeinschaft war wieder einmal auf die Probe gestellt.

Verlust nationaler Souveränität

Jeder britische Premier haderte zwischen wirtschaftlichen Interessen, die für eine Teilnahme am Binnenmarkt sowie an der Weiterentwicklung der Gemeinschaft sprachen, und dem mit jedem dieser Schritte verbundenen Verlust nationaler Souveränität. Nackten Zahlen auf der einen Seite stand – wie beim gestrigen Brexit-Referendum – stets der schwer quantifizierbare, aber emotionsbeladene nationale Stolz gegenüber.

„Wir haben nicht erfolgreich die Grenzen des Staats in Britannien zurückgerollt, um sie auf europäischer Ebene mit einem europäischen Superstaat und einer neuen Dominanz Brüssels wieder entstehen zu lassen“, sagte Margaret Thatcher 1988 bei einer Rede in Brügge. Gegen Ende ihrer Amtszeit versuchte die wirtschaftsliberale Politikerin nicht nur, die Wiedervereinigung Deutschlands, sondern auch die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung zu verhindern.

Ihr Nachfolger, John Major, sollte nach dem Willen der Proeuropäer unter den Tories das Verhältnis zur EU wieder in ruhige Bahnen lenken. Doch auch er scheiterte. Um sich innenpolitisch über Wasser zu halten, erzwang er in Brüssel ein Opt-out bei der Währungsunion und eines bei der Sozialcharta. Es folgten immer neue Ausnahmen und Sonderregelungen. Als etwa eine Öffnung der Grenzen beschlossen wurde, gingen Frankreich und Deutschland voran. Großbritannien aber blieb eine Insel, die jeden Einreisenden kontrollieren wollte. Auch Majors Nachfolger, Tony Blair, startete seine Amtszeit als Proeuropäer und torpedierte letztlich wichtige Beschlüsse in Brüssel.

Die britische Haltung war freilich nie ganz klar und ließ sich auch nicht auf den volkswirtschaftlich argumentierten Binnenmarkt beschränken. So wollte etwa London aus Gründen der Souveränität nicht an der Zusammenarbeit der Polizeibehörden und beim europäischen Haftbefehl mitwirken. Im Kampf gegen den Terrorismus zeigte sich aber bald, dass diese Kooperationen durchaus sinnvoll wären. Nachträglich sprang die britische Regierung deshalb doch noch auf diesen Zug auf.

Solche Widersprüche wurden auch im Rahmen der Finanz- und Schuldenkrise deutlich. Da drängte Premierminister David Cameron die europäischen Partner zu mehr Haushaltsdisziplin. Als aber ein Fiskalpakt beschlossen werden sollte, der für alle Länder der Union eine verfassungsrechtlich verankerte Schuldenbremse vorsah, da verweigerte er aus Gründen der Souveränität seine Zustimmung. Das Abkommen musste schließlich außerhalb des EU-Vertrags aufgesetzt werden.

Das Bild des ewig schwierigen Partners ist dennoch falsch. Großbritannien hat sich mehrfach konstruktiv in die EU eingebracht. Nur ein Beispiel von vielen: Seit Tony Blair bemühen sich die britischen Regierungen um eine europaweit organisierte Aufbauhilfe für Afrika. Das war lange, bevor solche Ideen im Rahmen der aktuellen Flüchtlingskrise aufgegriffen wurden. In den Verhandlungen in Brüssel haben die Briten, wie ein erfahrener österreichischer Diplomat erzählt, meist eine pragmatische Haltung eingenommen. „Sie haben zwar auf ihre Sonderrechte gepocht. Wenn es um die Sache gegangen ist, haben sie sich einer Lösung aber nie versperrt. Sie waren stets berechenbar.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2016)

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