"Die EU müsste Wladimir Putin eine Medaille überreichen"

Grafik: Gregor Käfer
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Die Gaskonflikte mit Russland haben die EU zur Schaffung einer gemeinsamen Energiepolitik animiert. Die Zahl der alternativen Bezugsquellen nimmt zu.

Wir wissen nicht, ob sich Wladimir Putin heute grün und blau ärgert. Ursprünglich nämlich hatte der Kreml-Chef ganz anderes im Sinn. Als er im Winter 2006/2007 in Konflikt mit der Ukraine geriet, wollte er am Gashebel vor den Augen des wichtigsten Kunden, Europa, demonstrieren, wer hier das Sagen hat. Mit einem Schlag war das Image des Gaskonzerns Gazprom, der über Jahrzehnte tadellos geliefert hatte, im Keller. Und quasi über Nacht sahen viele EU-Länder die Notwendigkeit gekommen, sich wegen der Versorgungssicherheit aus der einseitigen Abhängigkeit vom größten Lieferanten zu befreien.

Es mag übertrieben sein, wenn man Putin in Anlehnung an und in leichter Abwandlung von Goethes „Faust“ als Teil von jener Kraft bezeichnet, die nicht unbedingt das Gute will und es dann wider Willen trotzdem schafft. Aber eigentlich müsste ihm die EU eine Medaille überreichen, meint Frank Umbach, Forschungsdirektor des European Centre for Energy and Resource Security (EUCERS) am King's College in London, im Gespräch mit der „Presse“: „Wie schon in anderen Fällen hat sich die EU erst durch äußeren Druck zusammengerauft.“ Der Russland-Ukraine-Konflikt sei gewissermaßen der Startschuss für eine gemeinsame Energiepolitik gewesen, so Umbach weiter: „Und heute kann man sagen, dass man mehr erreicht hat, als man damals zu erreichen gehofft hat.“

Glas mehr als zur Hälfte voll

Gewiss, bis zum erklärten Ziel einer Energieunion, die sich auch in einer bedingungslosen politischen Solidarität bei der Energieversorgung unter den Mitgliedstaaten und – im Fall von Neuverhandlungen von Gaslieferverträgen – in einem Recht auf Einsichtnahme in diese Verträge durch die koordinierende EU äußert, ist es noch ein schönes Stück Weges. Differenzen werden aktuell etwa daran evident, wie unterschiedlich die Positionen und die Vorgehensweise diverser EU-Staaten in Bezug auf das Vorhaben zum Bau der zweiten russischen Ostseepipeline Nord Stream 2 sind. Und wie negativ sich nationale Alleingänge bei großen Energieprojekten auswirken können, zeigt sich im Zuge der Energiewende in Deutshland, wo die temporäre Stromüberproduktion in Norddeutschland in Ermangelung innerdeutscher Nord-Süd-Leitungen zu gefährlichen Überlastungen im deutsch-polnischen Netz führt.

Und dennoch: Zur Erhöhung der Versorgungssicherheit hat die EU im Lauf der Jahre immerhin das sogenannte Dritte Energiepaket aus dem Boden gestampft. Im Detail geht es darum, dass zur wettbewerblichen Öffnung in der Strom- und Gasversorgung der Erzeuger und Lieferant nicht gleichzeitig der Pipelinebetreiber sein darf (Unbundling). Damit soll auch gewährleistet werden, dass die Infrastruktur zum Energietransport nicht einem einzigen Lieferanten vorbehalten bleibt, sondern auch für dritte Anbieter zugänglich sein muss. Mit einem immer dichteren Netz an sogenannten Interkonnektoren (Verbindungen zwischen den einzelnen nationalen Netzen) soll auch die physische Voraussetzung für den Energiebinnenraum geschaffen werden. So wurden etwa die von Russland übermäßig abhängigen Baltischen Staaten – und bald auch Polen – über ein Flüssiggasterminal für andere Gaslieferanten zugänglich. Und vor wenigen Jahren hat ein neuerlicher Russland-Ukraine-Konflikt zur Erprobung des Reverse Flow (Umdrehung der Fließrichtung in Gaspipelines) geführt, sodass die Ukraine heute zunehmend über tschechische und slowakische Pipelines versorgt wird, obwohl diese normalerweise russisches Gas in den Westen transportieren.

Zähe Diversifizierung über Pipelines

Über allem steht das Ziel, einen Wettbewerb unter den Lieferanten zu erzeugen und die Bezugsquellen zu diversifizieren.

Wie schwer und langsam das mittels neuer Pipelines zu bewerkstelligen ist, zeigt die negative Erfahrung mit dem Projekt Nabucco, das für den Transport von Gas aus dem rohstoffreichen kaspischen Raum nach Wien vorgesehen war und am Ende auch aufgrund seiner Komplexität und russischer Opposition dagegen gescheitert ist.

Dennoch bleibt die Alternativpipeline namens TAP, die ein von der aserbaidschanischen Gasgesellschaft Socar und der britischen BP geführtes Konsortium soeben über Griechenland und das Adriatische Meer bis nach Süditalien baut, eine der großen Hoffnungen der EU. Socar, die bereits Tankstellen in Europa betreibt, tritt derzeit im Rahmen der Fußball-Europameisterschaft mit ambitionierter Stadionwerbung in Erscheinung. Ab 2018 sollen zehn und später vielleicht 20 Mrd. Kubikmeter Gas aus Feldern Aserbaidschans über die TAP nach Europa fließen. Zum Vergleich: Gazprom hat im Vorjahr 158,6 Mrd. Kubikmeter nach Europa geliefert, von denen in der Reihenfolge der größten Abnehmer 45,3 Mrd. Kubikmeter an Deutschland, 27 Mrd. Kubikmeter an die Türkei und 24,4 Mrd. Kubikmeter an Italien gingen. Österreich kaufte 4,4 Mrd. Kubikmeter in Russland zu, was 58,7 Prozent des einheimischen Gasbedarfs entsprach.

Stabiles Niveau in Norwegen

Aber auch im Vergleich mit Europas (und übrigens Österreichs) zweitgrößtem Gaslieferanten, Norwegen, nehmen sich die kaspischen Mengen vorerst bescheiden aus. Norwegen hat im Vorjahr mit 115 Mrd. Kubikmetern einen Allzeitrekord in der Gasförderung aufgestellt, wie den Daten des Rohstoff-Informationsdienstes Platts zu entnehmen ist. Da das Gas aufgrund des geringen Inlandsverbrauchs zu 95 Prozent in die EU fließt, deckt es dort 25 Prozent des Gaskonsums. An einer stabilen Versorgung auf ähnlichem Niveau soll sich künftig auch nichts ändern, beteuert Norwegens Regierung. Faktum aber ist auch, dass Norwegen seine Förderung nur schwer ausbauen kann, da die bekannten Lagerstätten teilweise ihren Förderzenit schon überschritten haben. Immerhin besteht das Problem unzuverlässiger Transitstaaten nicht – das Gas fließt ungestört über vier Pipelines nach Großbritannien und Kontinentaleuropa.

Dass Russlands lange Zeit unangefochtene Position in Europa neuer Konkurrenz unterworfen wird, ist zum ersten Mal 2009 zutage getreten. Und zwar gar nicht aufgrund Europas Diversifizierungsabsichten, sondern aufgrund der Finanzkrise und der durch die Frackingmethode hervorgerufenen plötzlichen Gasautarkie in den USA. Damals hat Katar seinen Export in die USA heruntergefahren und die mit verflüssigtem Erdgas (LNG) befüllten Tanker einfach nach Europa umgelenkt. Weil in Europa außerdem aufgrund der Finanzkrise weniger Gas gebraucht wurde, fiel Russlands Marktanteil 2010 auf 23 Prozent ab. Als Katar dann infolge der Fukushima-Atomkatastrophe die starke LNG-Nachfrage in Ostasien zu bedienen begann, erlangte Gazprom 2013 übrigens einen neuen Rekord-Marktanteil von 29,9 Prozent.

Flüssiggas aus allen Weltgegenden

Aber die transporttechnisch flexiblen Möglichkeiten des LNG-Imports sind zum fixen Bestandteil der EU-Strategie geworden. Terminals zur Entgegennahme von LNG sind mittlerweile sonder Zahl vorhanden – die Kapazitäten von über 200 Mrd. Kubikmeter werden lediglich zu einem Viertel genützt.

Wer künftig vermehrt sein LNG dort einspeisen wird, ist derzeit nicht eindeutig zu sagen. Gasexperte Umbach meint, vermehrt die USA, die heuer zu Beginn des Jahres zum ersten Mal überhaupt Gas (in LNG-Form) zu exportieren begannen und vor zwei Monaten ihren ersten Tanker in Europa löschten. Umbachs Argumentation: Schon vor eineinhalb Jahren sei der Gaspreis auf dem asiatischen Markt, den alle im Visier hätten, auf europäisches Niveau gesunken – nun kämen zusätzliche Mengen auf den ohnehin überversorgten globalen LNG-Markt aus Australien, Ostafrika und Katar hinzu. Und dies alles vor dem Hintergrund, dass Japan und Südkorea wieder Atomkraftwerke in Betrieb genommen haben und die Energieprognosen für China nach unten korrigiert werden.

Europa kann aus dem globalen Überangebot an LNG wählen. Zu den genannten Anbietern kommt nämlich beizeiten der Iran, der freilich die Infrastruktur dafür erst errichten muss. Von möglichen zehn bis 20 Mrd. Kubikmetern für Europa sprechen diverse Studien. Algerien, Europas drittgrößter Gaslieferant, kann aufgrund eines Investitionsrückstands sein Angebot wohl nicht vor 2018 aufstocken. Dafür könnte Israel vom Offshore-Feld Leviathan aus Europa ins Visier nehmen. Dass aber der neue, russlandfreundliche Verteidigungsminister, Avigdor Lieberman, Gazprom Marktanteile in Europa streitig machen will, ist unwahrscheinlich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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