Zeitungen in ganz Europa kommentieren den Ausgang des britischen Referendums und versuchen zu erahnen, welche Folgen das Ergebnis für die Europäische Union und für das Vereinigten Königreich haben wird.
„THE GUARDIAN“
Gibt kein nächstes Mal
London. „Dies ist ein bedeutender Tag in der britischen – und europäischen – Geschichte. Wenn eine Partei eine Wahl verliert, wird ihr Bald-einmal-Ex-Chef die Truppen zusammenrufen und ihnen ein anders Wahlergebnis für nächstes Mal versprechen. Aber diese Option gibt es für die zermalmten Häuptlinge dieses Mal nicht. Es gibt kein nächstes Mal. Der 23. Juni war eine einzigartige Gelegenheit, Großbritanniens Verhältnis zur EU zu versiegeln oder es zu beenden. Und die Wähler haben – bei einer hohen Wahlbeteiligung – entschieden, dass es Zeit ist zu gehen. Sie haben die Warnungen vernommen, den Experten jeglicher Sorte zugehört, die ihnen erklärten, dass ein Brexit im Desaster enden würde, sie haben den Premierminister beobachtet, der sie angefleht hat, das schrecklich Risiko nicht zu wagen. Und ihre Antwort war: Leck mich doch...“
„AFTENPOSTEN“
Die Krise als Chance
Oslo. „Großbritanniens Rückzug ist eindeutig eine Krise vom schlimmsten Kaliber. Krisentreffen werden folgen. Das Ende ist ungewiss. [...] Aber diese Krise ist auch eine Chance, die Partnerschaft wieder neu zu erfinden, einen Neustart zu machen, zu definieren, was die EU wirklich sein soll. Eine knappe britische Mehrheit in der EU hätte nicht die gleichen Chancen geschaffen, sondern nur zu einer Fortsetzung des Streits bis zu einer vielleicht größeren Katastrophe geführt.“
„FRANKFURTER ALLGEMEINE“
Verblassende Strahlkraft
Frankfurt. „Was der Brexit für Großbritannien und die EU längerfristig bedeutet, das ist nicht so offensichtlich. Vielleicht wird das EU-freundliche Schottland jetzt die Ablösung von Großbritannien anstreben. In der EU wird zum ersten Mal praktisch deutlich, dass auch der Prozess der immer tieferen Einigung umkehrbar ist. Vielleicht macht die Union den Abtrennungsprozess für Großbritannien so schmerzhaft, dass kein weiteres Land diesen Weg gehen will. Möglich ist aber auch, dass sich andere Länder anschließen, Dänemark beispielsweise, die Niederlande oder die Slowakei. [...] Die Strahlkraft der EU hat schon seit langer Zeit nachgelassen. Zu sehr werden unterschiedliche Länder über einen Kamm geschoren, zu sehr drängen Unionsfreunde auf Vereinigung, wo es keine europäische Öffentlichkeit gibt. Eines ist sicher: Großbritanniens Brexit-Entscheidung weist auf ein weiteres, großes Problem hin – und das betrifft längst nicht nur Großbritannien. In der westlichen Welt grassiert ein neues Misstrauen.
„IRISH TIMES“
Nordirland, was nun?
Dublin. „Das Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs scheint nun wahrscheinlicher als je zuvor, ja möglicherweise unvermeidbar, wenn der formale Bruch mit der EU besiegelt ist. Es ist schwer zu glauben, das ein Pro-EU-orientiertes Schottland weiter mit einem Anti-EU-orientierten England zusammen sein will. Der Bruch wirft auch die fundamentalsten Fragen für Nordirland auf, seit es sich als vom Rest Irlands separierte politische Einheit eingerichtet hat. Zentral für den Friedensprozess in Nordirland war ein langsamer, aber unaufhaltsamer Prozess, Grenzen weniger wichtig zu machen. Jetzt werden die Grenzen wieder wichtiger werden. Das mag den Friedensprozess nicht sofort bedrohen, aber es erfordert die Neuaufstellung der Dreier-Beziehung zwischen Irland, Britannien und dem Norden. Es wird ein sehr heikler Prozess werden...“
„REPUBLIQUE DES PYRENEES“
Haut ab – und gute Reise!
Tarbes. „Liebe englische Freunde, zögert nicht, verlasst Europa! Lang habt ihr die wunderbare Isolation der europäischen Idee vorgezogen. Also, wählt den Brexit, auch wenn er nicht in eurem Interesse ist, denn ihr werdet ganz allein sein. Wegen des Wertverfalls des Pfunds werdet ihr eine Inflation erleiden [...]. Löst die Leinen und befreit uns von einer Last – von euch. Das politische Europa, das ihr nicht mögt, ist so machtlos geworden, dass es einen wirklichen Elektroschock benötigt, den euer Abschied hoffentlich bringen wird. [...] Also, ihr Herren Engländer: haut ab – und gute Reise!“
„DAILY MIRROR“
Cameron, der Versager
London. „Ein arroganter Premierminister schleicht sich gedemütigt aus der Downing Street, nachdem ein von ihm angezetteltes taktisches Referendum desaströs für den Buller Boy und Großbritannien ausgegangen ist. David Cameron verlässt Nummer 10 und das Land wird sich aus der EU verabschieden. Es war nie beabsichtigt, dass das Referendum so ausgeht. Aber es ist so ausgegangen – und Cameron geht in die Geschichte als Versager ein, der hoch gepokert und verloren hat.“
„MLADA FRONTA DNES“
Die Schuld der Eliten
Prag. „Erschütternd ist vor allem, dass der Ausgang weder durch schlechtes Wetter noch durch eine geringe Wahlbeteiligung verursacht wurde [...]. Dieses Ergebnis kann man kaum anders interpretieren, als die Erteilung der schlechtesten Note für die gegenwärtige Form der europäischen Integration [...]. Die Schuld kann man vor allem im Mangel an Selbstreflexion der gegenwärtigen europäischen Eliten suchen. Einen Tag nach dem Referendum planen die Herren Juncker, Schultz und Tusk ein gemeinsames Treffen. Die politische Kultur sollte ihnen im Grunde genommen befehlen, ihre Ämter anzubieten. Sie können sich aber weiterhin hinter der Auffassung verstecken, dass der Rest der EU jetzt eine klare Führung für die Verhandlungen mit Großbritannien über die Bedingungen seines Austrittes brauche.“
„FINANCIAL TIMES“
Großbritanniens Ende
London. „Die britischen Völker sind gespalten. In England verläuft eine Trennlinie zwischen den großen Städten und den postindustriellen Provinzen. [...] Das Votum gegen die EU könnte sich durchaus als Votum gegen Großbritannien erweisen. Bei den Brexit-Befürwortern handelte es sich um englische Nationalisten. Schottland und Nordirland wollten in der EU bleiben, ebenso London. Der Austritt aus einer Union könnte also den Tod einer anderen Union bedeuten. Wer könnte den Schotten vorwerfen, Europa einem England vorzuziehen, das sich in sich selbst zurückgezogen hat? Wie lang noch werden die Engländer bereit sein, Geld nach Nordirland zu pumpen?“
„PRAVDA“
Nutznießer Russland
Pressburg. „Moskau erfreut zum einen die Hoffnung, dass nun bald die Sanktionen der EU beendet sein werden. Und der zweite wichtige Aspekt: Es eröffnet sich die Möglichkeit, die ,natürliche‘ Einflusssphäre in Mittel- und Osteuropa zu erneuern. Erleichtert wird das durch den Umstand, dass dort die Welle des Europa-Optimismus vorbei ist und dass verschiedene Populisten und Faschisten das Wort führen. Selbstverständlich bewegt den Normalbürger von Sheffield weit mehr das Schicksal des dortigen Stahlwerks oder die Migrationsfrage, als die Frage, ob die Staaten Mittelosteuropas erneut zu Satelliten Russlands werden könnten. Nur – in London und Sheffield wurde auch über Tallinn und Riga entschieden.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)