In Washington warnt man vor den schweren politischen und ökonomischen Folgen des Brexit. Beobachter geben zu bedenken, dass sich die USA unter Präsident Obama von Europa abgewendet haben.
Washington. Ein paar Momente, bevor die Börsen in New York eröffneten und sogleich binnen Minuten um drei Prozent und mehr abstürzten, äußerte sich US-Präsident Barack Obama zum Ergebnis des britischen EU-Referendums. „Das Volk des Vereinigten Königreichs hat gesprochen, und wir respektieren seine Entscheidung“, teilte das Weiße Haus in einer Aussendung mit. „Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union werden unverzichtbare Partner der Vereinigten Staaten bleiben.“
Jenseits des Atlantiks, im Trinity College in Dublin, brachte Vizepräsident Joe Biden die Haltung der amerikanischen Führung deutlicher zur Sprache: „Wir hätten ein anderes Ergebnis bevorzugt. Und ich kann mir vorstellen, das trifft für viele von Ihnen hier auch zu.“
Für die USA bringt der Brexit eine Reihe politischer und wirtschaftlicher Probleme. Mit dem nun zu erwartenden Austritt der Briten aus der EU kommt den Amerikanern ein wichtiger Fürsprecher in Brüsseler Ministerrats- und Gipfelsitzungen abhanden.
Die amtliche Haltung der USA ist zwar, dass sie an einer starken, selbstständigen EU größtes Interesse haben. Wenn es jedoch um die Interessen amerikanischer Unternehmen an der Änderung (sprich: Lockerung) europäischer Binnenmarktregeln geht, war London stets ein verlässlicher und artikulierter Vertreter der Washingtoner Positionen – ob es um Richtlinien für die Regulierung von Chemikalien geht oder die Zulassung gentechnisch veränderten Saatgutes. Auch in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik stehen die führenden Nato-Nationen USA und Großbritannien Schulter an Schulter; das konnte man nach den Enthüllungen von Edward Snowden, dem früheren Mitarbeiter der National Security Agency, über die umfassende Datenerfassung der amerikanischen und britischen Geheimdienste sehen. Wirtschaftlich ist der Brexit für die Amerikaner ebenfalls folgenreich, und dabei geht es gar nicht einmal um die Frage, ob die Wertpapierhändler von US-Großbanken weiterhin in London oder eher in Städten in der Eurozone ihrer Arbeit nachgehen. Morgan Stanley erklärte am Freitagmorgen, dass 2000 bisher in der City tätige Investmentbanker künftig in Dublin oder Frankfurt arbeiten werden.
Angst vor starkem Dollar
Wirklich bedrohlich ist für die US-Volkswirtschaft die nun beschleunigte Aufwertung des Dollar. Denn die amerikanische Konjunktur ist zuletzt merklich erkaltet, und es mehren sich die Zeichen, dass der Aufschwung nach der großen Rezession zum Erlahmen kommt. Im Mai entstanden in den USA nur rund 38.000 neue Arbeitsplätze. Erwartet hatte man 162.000.
Der Dollar wertet nun auf, weil die Investoren ihn in krisenhaften Momenten der Weltwirtschaft als flüssige und sichere Fluchtwährung schätzen. Das allerdings macht US-Ausfuhren teurer und bedeutet in einer Zeit, in der Japan zur Belebung seiner Exportwirtschaft abwertet, einen starken Wettbewerbsnachteil – und Wasser auf die Mühlen von Demagogen wie Donald Trump, die behaupten, die ganze Welt habe sich gegen Amerika verschworen.
Obama muss sich jedenfalls den Vorwurf seiner Kritiker gefallen lassen, seit seiner ersten Wahl 2008 das kriselnde Europa zugunsten einer Orientierung nach Asien mit Desinteresse behandelt zu haben. Welche Wirkung sein später Appell an die Briten hatte, für den Verbleib in der EU zu stimmen, ist fraglich. Boris Johnson, der mögliche nächste Premierminister, hatte Obamas Bekenntnis zur britischen EU-Mitgliedschaft in einer Kolumne für das Boulevardblatt „Sun“ als „Symbol der von den Vorfahren eines halb kenianischen Präsidenten herrührenden Ablehnung des britischen Reichs“ bezeichnet.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)