NS-Zwangsarbeit: Herrenmenschen und Arbeitsvölker

Sowjetische Zwangsarbeiterinnen bei der Ankunft in einem Berliner Durchgangslager, Dezember 1942.
Sowjetische Zwangsarbeiterinnen bei der Ankunft in einem Berliner Durchgangslager, Dezember 1942. (c) G. Gronfeld / Deutsches Historisches Museum Berlin
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Zwangsarbeit im Nationalsozialismus war nicht nur ein organisiertes Regimeverbrechen, sondern geschah täglich inmitten der Gesellschaft. Erstmals in Österreich zeigt eine herausragende Ausstellung im Arbeitsmuseum Steyr die gesamte Geschichte dieses Unrechts.

Wenn die Oberösterreicherin Katharina Brandstetter eingeladen wird, im Geschichtsunterricht als Zeitzeugin aufzutreten und sie über ihre Kindheit zu sprechen beginnt, herrscht bei den Schülern beklommenes Schweigen. Ihr Geburtsjahr kann die Frau nur vermuten, sie dürfte heute 72 Jahre alt sein, sie kennt ihren wahren Namen nicht, ihren Vornamen hat sie sich selbst gegeben, ihr Überleben als Kind einer Zwangsarbeiterin, die nach Oberösterreich verschleppt wurde, gleicht einem Wunder. „Ich habe im Gau Oberdonau Tausende von Ausländerinnen und mache nun die Feststellung, dass diese schwanger werden und Kinder in die Welt setzen“, schrieb Gauleiter August Eigruber im Juli 1942 an SS-Führer Heinrich Himmler. Die Babys wurden den Müttern unmittelbar nach der Geburt weggenommen und unter elenden Bedingungen in „fremdvölkischen Kinderheimen“ untergebracht, auf ihr Überleben wurde kein großer Wert gelegt. Katharina schaffte es, sie erlebte als Baby das Kriegsende im oberösterreichischen Heim in Schloss Etzelsdorf.

Zur gleichen Zeit machte sich eine neunzehnjährige polnische Zwangsarbeiterin, die auf einem Bauernhof im nahegelegenen Sierning gearbeitet hatte, auf die Suche nach ihrem vermissten Kind. Besatzungstruppen übergaben ihr daraufhin Katharina – „Mutter“ und Kind waren beide schwarzhaarig, also war die „Verwandtschaft“ möglich. Viele Jahre später entdeckte Katharina durch DNA-Proben das, was sie intuitiv vermutet hatte, dass nämlich die ungeliebte Stiefmutter nicht ihre leibliche Mutter war. Wo ihre Wurzeln sind, weiß sie bis heute nicht.

Abtransport nach Deutschland. Ukraine, Frühjahr 1943 (c) Bundesarchiv, Koblenz
Abtransport nach Deutschland. Ukraine, Frühjahr 1943 (c) Bundesarchiv, Koblenz(c) Bundesarchiv, Koblenz

Eine traumatische Kindheit, zugleich ein kleiner Ausschnitt eines organisierten Staats- und Gesellschaftsverbrechens, das europaweit über 20 Millionen Menschen zu Arbeitssklaven degradierte. Keine Ausstellung bisher hat in Österreich dieses System der Zwangsarbeit so ausführlich und eindringlich dargestellt wie die internationale Wanderausstellung, die derzeit nach Stationen in Berlin, Moskau, Warschau und Prag im Arbeitsmuseum Steyr Station macht. Steyr hat sich hartnäckig darum bemüht, kommt doch die Ausstellung in eine Region, in der viele Zehntausend Zwangsarbeiter etwa in den Steyr-Werken oder auf Bauernhöfen eingesetzt waren und die sich mit den Gedenkstätten in Mauthausen und Steyr selbst um die Erinnerung an die Opfer bemüht hat. So war es auch naheliegend, dass die in Deutschland konzipierte Ausstellung variiert und um österreichspezifische Themen erweitert wurde, etwa durch das Schicksal der Kinder von Etzelsdorf. Steyr besitzt mit dem „Stollen der Erinnerung“ eine schon länger existierende Gedenkstätte für NS-Zwangsarbeiter, die lokale Dimension der europaweiten Versklavung von Menschen wird hier dokumentiert.

Ein Uniformierter, vermutlich SS-Mann, schikaniert einen polnischen Juden im Herbst 1939. (c) Stadtarchiv Nürnberg
Ein Uniformierter, vermutlich SS-Mann, schikaniert einen polnischen Juden im Herbst 1939. (c) Stadtarchiv Nürnberg(c) Stadtarchiv Nürnberg

Jeder sah sie. Besondere Bemühungen um die Aufarbeitung des Schicksals dieser 20 Millionen Menschen fehlten in der Nachkriegszeit, ein vergleichbares Projekt, wie es die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora mit dieser Ausstellung nach jahrelanger Kleinstarbeit liefert, kam nie zustande. Es fehlte lange sogar die Anerkennung von Zwangsarbeit als Verbrechen, sie galt als „bedauerliche Begleiterscheinung“ von Krieg und Besatzungsherrschaft, so war man weit entfernt vom Gedanken einer – ohnehin nur symbolisch denkbaren – Entschädigung. Viele der Betroffenen haben jahrzehntelang über ihr Schicksal geschwiegen, selbst den eigenen Angehörigen gegenüber, das Thema wurde erst durch die Klagen amerikanischer Anwälte Ende der 1990er-Jahre ein Thema in der Öffentlichkeit.

Nun wird im Steyrer Museum in 450 Dokumenten und Fotos die entwürdigende Sklavenarbeit politisch Verfolgter dokumentiert, der Bogen reicht vom Zwangsarbeiteralltag auf Bauernhöfen und in Fabriken bis hin zur mörderischen Fron in Steinbrüchen wie Mauthausen oder in den besetzten Gebieten von der Sowjetunion bis zum Bau des Atlantikwalls. Ihre Arbeit stand im Dienst der Kriegsführung, sie trug aber auch zur Sicherung des Lebensstandards der „Herrenmenschen“ bei, die sich das Recht herausnahmen, die „Untermenschen“ rücksichtslos auszubeuten. Geheim wie die industrielle Tötung von Menschenleben in den Vernichtungslagern war die Zwangsarbeit nicht geblieben: Die Menschen, darunter viele Frauen, auch Kinder, in den Privathaushalten und Bauernhöfen, in der Industrie und auf Baustellen waren in den Städten und Dörfern präsent, jeder aus der Bevölkerung sah sie täglich auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Das Verbrechen war öffentlich, die Gewöhnung daran pervers.

Mitarbeiterinnen des Arbeitsamtes registrieren Zwangsarbeiterinnen und stellen Arbeitspapiere aus. Durchgangslahger Berlin. (c) G. Gronfeld Deutsches Historisches Museum Berlin.
Mitarbeiterinnen des Arbeitsamtes registrieren Zwangsarbeiterinnen und stellen Arbeitspapiere aus. Durchgangslahger Berlin. (c) G. Gronfeld Deutsches Historisches Museum Berlin.(c) G. Gronfeld Deutsches Historisches Museum Berlin.
Eine der zahlreichen Regeln zum Umgang mit Zwangsarbeitern verbot die „Tischgemeinschaft“ von Deutschen und Zwangsarbeitern. Auf den Bauernhöfen sollten sie ihre Arbeit getrennt von den Deutschen einnehmen. (c) Amstettner Anzeiger 18.4. 1943
Eine der zahlreichen Regeln zum Umgang mit Zwangsarbeitern verbot die „Tischgemeinschaft“ von Deutschen und Zwangsarbeitern. Auf den Bauernhöfen sollten sie ihre Arbeit getrennt von den Deutschen einnehmen. (c) Amstettner Anzeiger 18.4. 1943(c) Amstettner Anzeiger 18.4. 1943

Rassistische Hierarchie. Auch unter den Zwangsarbeitern herrschte eine Hierarchie, die den Gesetzen des völkischen Rassismus gehorchte. „Westarbeiter germanischer Abstammung“, wie Niederländer oder Norweger, wurden pfleglicher behandelt als Franzosen, Italiener, Balten oder Angehörige der Balkanstaaten. Am untersten Ende der Entwürdigungsskala standen Polen (sie trugen den Aufnäher „P“), Menschen aus der Sowjetunion („Ost“-Arbeiter), Juden, Roma und Sinti. Allein in Österreich gab es im Herbst 1944 580.000 Menschen als „zivile Zwangsarbeiter“, 182.000 Kriegsgefangene wurden zum Teil ebenfalls für Zwangsarbeiten eingesetzt, 65.000 ungarische Juden bauten am Südostwall, 64.000 Insassen von Konzentrationslagern wurden auf österreichischem Gebiet ebenfalls für Sklavenarbeit in der Rüstungsindustrie herangezogen.

Jeder, der mit Zwangsarbeitern Umgang hatte, hatte einen ganz persönlichen Handlungsspielraum, wie er diesen „Untergebenen“ begegnete: mit einem Rest von Mitmenschlichkeit oder im rassistischen Überlegenheitsgefühl als Tyrann. Nicht wenige werden es genossen haben, die theoretisch postulierte Rassenüberlegenheit auch im Alltag mit Leben erfüllen zu können. Dass es auch das „Problem“ an Resthumanität gab, bezeugen die unzähligen Fraternisierungsverbote. Bauern durften mit ihren Zwangsarbeitern nicht gemeinsam essen und keinen privaten Umgang haben. Ihnen die Hand zu geben stand unter Strafe.

Polnische Zwangsarbeiter bei Straßenarbeiten vor dem Parlament in Wien 1944. (c) Fundacja „Polsko-Niemieckie Pojednanie“, Warschau
Polnische Zwangsarbeiter bei Straßenarbeiten vor dem Parlament in Wien 1944. (c) Fundacja „Polsko-Niemieckie Pojednanie“, Warschau(c) Fundacja „Polsko-Niemieckie Pojednanie“, Warschau

Viele der Zwangsarbeiter schwiegen jahrzehntelang, sie erleichterten dadurch die Verdrängung des begangenen Unrechts. Im ehemaligen Ostblock mussten sie Angst haben, dass ihre Sklavenarbeit als Kollaboration mit dem faschistischen Feind gewertet würde. Als ein Historikerteam in jahrelanger Arbeit diese Ausstellung vorbereitete und Quellen suchte, begannen die Opfer oder ihre Nachkommen, sich zu melden, zu erzählen. Ganze Fotoserien vergegenwärtigen im Steyrer Museum gleichsam in filmischer Anordnung Situationen und Personen, so wird hier eine visuelle Repräsentation von Zeitgeschichte geboten, wie man sie selten sieht und wie sie im Zeitalter der Visualität vor allem Jugendliche anspricht.

Erste Mahlzeit nach der Befreiung. Anrath bei Mönchengladbach, März 1945 (c) National Archives, Washington
Erste Mahlzeit nach der Befreiung. Anrath bei Mönchengladbach, März 1945 (c) National Archives, Washington(c) National Archives, Washington

Seit dem Jahr 2010, der ersten Präsentation im Jüdischen Museum Berlin, zieht diese Ausstellung durch europäische Städte, auch in Osteuropa, nun findet sie ihre letzte Station in Steyr. Sie bewahrt die versklavten Menschen durch die berührende Darstellung von mehr als 60 repräsentativen Schicksalen vor dem Vergessen und gibt ihnen so das zurück, was ihnen allzu lange vorenthalten wurde und wozu keine finanzielle Entschädigung imstande ist: ihre Würde.

Ausstellung

Arbeitsmuseum Steyr
Die internationale Großausstellung zum Thema „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus“ ist im Museum Arbeitswelt Steyr vom 12. Mai bis zum 18. Dezember 2016 zu Gast. Öffnungszeiten: Di bis So von 9 bis 17 Uhr. Katalog: 276 Seiten, 20,40 €.

Sie ist initiiert und gefördert von der deutschen Stiftung EVZ, in Österreich durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich. Den Ehrenschutz haben die Präsidenten Heinz Fischer und Joachim Gauck übernommen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2016)

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