Es geht nach rechts

Europa wird sich überlegen, wie der Funke zum Bürger überspringt.

Gerade komme ich aus dem Wiener Wald, wo meine Partisanenoper aufgeführt wird, die den Bogen vom Widerstand gegen den Faschismus und der Aufarbeitung dieser Zeit bis ins Heute spannt, mit einer Hoffnung, die sich Europa nennt. Denk- und Mahnmalkultur haben sich in praktisch jeder kleinen Gemeinde ausgebreitet und haben die Bewusstheit um die nationale Geschichte erhöht. Meinte ich, bis ich erfuhr, dass Jugendliche mit dem Begriff Holocaust und Österreich wenig bis gar nichts anfangen, fragt man beispielsweise in Höheren technischen Lehranstalten Wiener Provenienz nach.

Vielleicht fehlt es an didaktischen Mitteln, an der Zeit, an der Schülerzahl, am Bildungsschwerpunkt, an den Interessenslagen und an einem Menschenbild für die Zukunft, die sich junge Europäer und Europäerinnen ausdenken müssen. Als schlechte, zynische, gierige Untergangs- Vorbilder gehen Nationalisten und ihre Führerparteien durch. Die europäischen Kriege werden als europäisch empfunden, also als so weit weg, dass der Hadrianswall in England wieder auferstehen kann, ohne dass es einen wundern täte.

Vielleicht kommt eines Tages das Europa der Provinzen als neue EU daher, wenn die Engländer dahinterkommen, dass die Nation als Bremse für Europa gewirkt hat. Die Bremse für Reformen im Sozialen. Es geht  also um Maßnahmen, die das Soziale umfassen, die die Sozialversicherung bedeuten, Mindest-Grundsicherung, das freie Grundeinkommen, Mindestversorgung, um einige Schlagworte aus diesem weiten Spektrum herauszuziehen. Was für eine Schlappe die jungen urbanen und nicht urbanen Engländer hinnehmen müssen, die für ein soziales Europa dabeigegblieben wären und nun erfahren, dass Farage mit seinen Versprechungen, sozial national besser zu investieren, bereits den Rückzieher macht, sprich: Propaganda mit Lügen gemacht hat.  So weit weg ist Europa, als wäre ich mitten drin im Wald meines Wiens. Der Apparat, der diese Stadt organisiert, ist etwa so groß, wie der Apparat, der die europäische Union organisiert. Was Effizienteres an Verwaltungsmechanik kann ich mir nicht vorstellen, aber Mechanik allein macht nix besser.

Die EU ist unser Untergang, zitierte einst Robert Menasse, und hob die dialektische Bedeutung hervor, dass Europa der Nationalstaaten gehe unter, oder es gehe das Projekt der Überwindung der Nationalstaaten unter. Da sind wir jetzt, an diesem Punkt. Jedoch: Es geht nach rechts und nicht Richtung soziale Gerechtigkeit, Umverteilung, Frieden, Bildung. Demagogen und Populisten ködern mit der nationalen Abschottung und winken mit Fascho-Symbolik, weil der Mob Symbole nichts anders kennt, und wenn er nichts anderes kennt, weil er von woanders herkommt, ergreift er oder sie, was ihm angeboten wird, um seine narzisstische Kränkung mit Provokation und Hetze zu stillen, anstatt Veränderung von der Ökonomie und Politik zu fordern. In der Weltgeschichte herumzureisen, etwa von London nach Wien, oder von Manchester nach London, ist für Manchester-People unleistbarer, als man glaubt, nach Thatcher. Die englische Erde birgt Ruinen, die in kommunalen Vereinen ausgebuddelt werden.

Zerfällt jetzt Großbritannien? Wie wird sich der  Finanzmarkt London entwickeln, der sich um Rahmenbedingungen kümmern wird, um den Zugang zum europäischen Markt zu erhalten.  Was passiert dann mit den eingesparten EU-Geldern, muss es in die Stabilisierung des Finanzmarktes London fließen? In Burgen und Festungen der Könige, Dukes und Earls? Was geschieht in Bristol, Manchester, Liverpool und im Dörfchen Sidmouth in Devon? Dort gibt es clotted cream und fish and chips und eine internationale Sprachschule, wo Kinder aus aller Welt Englisch lernen. Auch Erwachsene. Auch ich drunter, mit einem Arzt aus Istanbul und einem Arzt aus Rom. Wir vertrieben uns die Zeit mit Wortschlangen und erhielten ein Zertifikat. Unsere Wortschlange zischelte mit der großen Verlockung: Mehr Entfaltung, mehr Freiheit, mehr sich selber zur Verwirklichung bringen. Dabei war das Meiste erreicht. Und jetzt? Europa wird sich nicht provinzialisieren, es wird sich wieder einmal etwas überlegen, den Funken zum Bürger überspringen zu lassen. Wirtschaft und Ökonomie sind herausgefordert. Wie läuft das jetzt, wenn Italien seine Traktorenproduktion von England nach Graz verlegt? Das macht ja was! Wie groß ist der Schaden durch das Finanzkapital, durch die Digitalisierung, die uns, ja uns wegrationalisiert und das Profitmaximum auch aus uns herauszieht, bis wir erschöpft aufklatschen? Da bleibt nicht viel über. Eigentlich gar nichts. Da bin ich untergegangen. Dagegen wird nicht viel helfen. Ich auch nicht, außer meinen Europa-Gedanken nicht von zynischen Referendums-Strategen versauen lassen. Und aus einem Schiff der Esperanza, die in der Partisanenoper, eine wesentliche Rolle spielt, soll eine Flotte entstehen und diese läuft unter Europa, damit es nicht in sich absäuft, wie eine Aufführung im Wald.

Lydia Mischkulnig, geboren 1963 in Klagenfurt, lebt als Schriftstellerin ("Schwestern der Angst", "Vom Gebrauch der Wünsche") in Kärnten, Wien und Nagoya. http://www.lydiamischkulnig.net/

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2016)

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