Russland: Verständnis für "Volksaufstand"

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Während manche Kommentatoren über den "Zerfall" der EU jubilieren, dürfte Moskau seine Fühler nach London ausstrecken.

Moskau. In Russland reichen die Reaktionen auf das britische Votum von Verständnis bis zur offenen Euphorie. Zwar gehen nicht alle so weit wie der Kreml-nahe TV-Propagandist Dmitrij Kisseljow, der in seiner Polit-Sendung auf dem Staatskanal Rossija 1 bereits den „Zerfall der EU“ an die Wand malt. Für Kisseljow, der hinter der europäischen Union nur ein imperialistisches Projekt der USA vermutet, ist der Brexit eine Jubelmeldung. Doch auch die bekannte politische Kommentatorin Julia Latynina interpretiert in der Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“ das Referendum der Briten als „Volksaufstand gegen Brüssel“. Mit einem gewissen Verständnis analysiert Latynina den britischen Ausstieg aus der von ihr als „riesigem sozialistischen Staat“ bezeichneten EU.

Als Votum gegen die Machtfülle der Brüsseler Bürokratie hat auch der russische Präsident, Wladimir Putin, das britische Referendum bezeichnet. „Die Konzentration der Macht ist in den leitenden Strukturen der EU sehr hoch“, sagte Putin vor einigen Tagen. Manchen Menschen gefalle dieses „Verwischen von Ländergrenzen“, anderen wiederum nicht. „Der überwiegenden Mehrheit der Briten, scheint es, gefällt es nicht“, konstatierte der russische Staatschef.

Einen Vergleich zwischen dem Brexit-Votum und dem Zerfall der Sowjetunion lehnt man zumindest offiziell als unpassend ab. Parallelen zum Schicksal der UdSSR seien nicht zu erkennen, sagte Putins Sprecher, Dmitrijk Peskow, gestern. „Viele Staaten haben solche Phasen.“ Ein EU-Austritt Großbritanniens hätte auch Folgen für Russland.

„Wir sind interessiert an der Zusammenarbeit sowohl mit Brüssel als auch mit London“, hieß es gestern diplomatisch aus dem Außenministerium. Während man sich nach außen hin abwartend gibt, kommt die Schwächung der EU durch den Brexit der Moskauer Führung natürlich entgegen. Mit London hofft man, sich in Zukunft bilateral verständigen zu können. Zu verbessern gäbe es vieles. Das Verhältnis zwischen Moskau und London ist seit Jahren aus politischen Gründen angespannt. Gleichzeitig ist der Finanzplatz London wichtig für russische Unternehmen, die Kinder der Elite besuchen britische Schulen und Universitäten. (som)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)

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