David Camerons langer Abschied ist eine Zumutung für ganz Europa

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Großbritannien und die EU können sich keine lahme Ente in Downing Street leisten. Boris "Brexit" Johnson sollte sofort die Verantwortung übernehmen.

Das britische Volk hat mehrheitlich für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt, und die derzeitige Regierung in London fühlt sich dafür nicht zuständig. Das ist ein untragbarer Zustand. Premier David Cameron sollte nicht erst im Herbst zurücktreten, sondern unverzüglich. Die Verantwortung müssen nun jene übernehmen, die für den Brexit geworben haben, allen voran Londons Ex-Bürgermeister, Boris Johnson. Es ist den Konservativen zuzumuten, ihre Führungsfrage etwas rascher zu klären, als sich das der scheidende Regierungschef vorstellt.

Die Zeit für taktische Spielchen ist vorbei, am Votum der britischen Bürger nicht zu rütteln. Das Parlament mag rechtlich nicht ans Referendum gebunden sein, doch politisch führt kein Weg daran vorbei, den Willen der Bevölkerung umzusetzen. Alles andere käme einer Missachtung demokratischer Spielregeln gleich. Cameron und Co. hätten sich besser vorher überlegen sollen, über eine derart folgenreiche Frage wie den Austritt aus der EU abstimmen zu lassen, als ginge es um die Einführung einer begrünten Fußgängerzone in North Finchley. Doch nun müssen sie das Ergebnis akzeptieren, ob es ihnen gefällt oder nicht. Nur antidemokratisch veranlagte Fantasten können ernsthaft glauben, das Brexit-Votum mit einem Hütchentrick über Neuwahlen aushebeln zu können, ohne eine ähnliche Stimmung zu riskieren wie 1688 vor der Glorreichen Revolution.

Großbritannien braucht in diesem historischen Moment einen handlungsfähigen Premier in Downing Street 10 und keine lahme Ente, die noch gemütlich durch den Sommer watschelt. Das Vereinigte Königreich steht vor dem Zerfall: Schottland strebt nach dem Brexit ein zweites Unabhängigkeitsreferendum an, Sinn Féin fordert die Wiedervereinigung von Ulster mit Irland. Klein-Britannien, die letzte Schrumpfstufe des ehemaligen Empire, rückt plötzlich sehr nah. Das Pfund ist abgestürzt, die britische Kreditwürdigkeit herabgesenkt, Unternehmen machen kein Hehl aus ihren Abwanderungsgedanken. Und der Brexit-Derwisch Boris Johnson hat sich am Wochenende auf sein Landhaus zurückgezogen, ein bisschen Cricket gespielt und in einer Kolumne im „Daily Telegraph“ seelenruhig zu Protokoll gegeben, dass die negativen Konsequenzen des Brexit übertrieben dargestellt würden, der Zugang zum EU-Binnenmarkt schon erhalten bleibe und goldene Möglichkeiten auf sein Land warteten.

Möge er am Ende recht behalten, doch von allein wird sich die Beziehung seines Landes zu Europa nicht einrenken. Dafür sind Verhandlungen nötig. Und diese Gespräche wird die EU aus guten Gründen erst beginnen, wenn London den Austrittsartikel 50 aktiviert.

Cameron möchte die Escape-Taste nicht drücken. Vielleicht will er nicht als derjenige in die Geschichte eingehen, der Großbritannien aus der EU geführt hat; vielleicht will er Zeit für den Führungswechsel in seiner Partei gewinnen; vielleicht will er seinem Nachfolger die Mauer machen, weil momentan in keiner Regierungsschublade ein konkreter Plan B(rexit) liegt; oder vielleicht hofft er, dass Harry Potter das Referendum wieder wegzaubert. All das wäre verständlich, einen Dienst erweist Cameron mit dieser Hinhaltetaktik aber weder der EU noch seinem eigenen Land. Die Bürger, die Märkte, die Union und Großbritannien benötigen jetzt vor allem eines: Klarheit.


Der Austritt Großbritanniens stellt einen gefährlichen Präzedenzfall für die EU dar. Lässt sich die EU ausräumen wie ein Supermarktregal, sichern sich die Briten auch nach einem Austritt Privilegien zu Niedrigstpreisen, dann werden schnell auch andere Mitglieder zur Ausgangstür rennen. Der Brexit muss deshalb mit Kosten für Großbritannien verbunden sein. Andererseits entspringt die Vorstellung, an Europas zweitgrößter Volkswirtschaft ein schauriges Exempel zu statuieren, blindwütigem Wunschdenken. Denn damit schnitte sich die EU tief ins eigene Fleisch.

Am Ende sollte ein kühl austarierter Kompromiss stehen. Und um nicht zu viel Erde zu verbrennen, sollten die Verhandlungen bald starten. Führen muss sie ein anderer als Cameron, und zwar möglichst noch vor dem Herbst. Es ist Zeit für Boris Johnson, vorzutreten und Verantwortung zu übernehmen.

E-Mails an:christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)

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