Demut und Fleiß sind passé – die Jugendlichen wollen vor allem Spaß haben. Wie ihre Eltern, die Fleiß, Demut, Sparsamkeit und Hingabe als Lebensinhalt sahen, wollen sie nicht leben.
Tokio. Grell geschminkt lümmelt Keiko in einer feldgrauen Uniform der verflossenen „Nationalen Volksarmee“ auf dem Bürgersteig. Die 17-Jährige ähnelt einem ostdeutschen Feldwebel, an dem von den Schulterklappen bis zu den Stiefeln alles echt ist. Nur die originale Kopfbedeckung passt nicht auf die wilde Haarmähne.
Ihre Freundin Megumi stiefelt als Wehrmachtsoffizier über den Vorplatz des Tokioter Meiji-Schreins. Dazwischen Bräute in weißen Roben, aufgerüschte Prinzessinnen, finster blickende Krankenschwestern, die mit Spritzen fuchteln. Mehrere Mädels toben sich als Hexen aus.
Jeden Sonntagnachmittag treffen sich am S-Bahnhof Harajuku hunderte Teenager, die anders sein wollen als während der Woche in Schule, Lehre oder Beruf – zumindest anders aussehen. Hier spielen die In-Kids „Kosupule” – „costume play“ (Kostümspiel). Wer hip sein will, muss sich zeigen.
Apolitische Kostümspiele
Kaum einer aber fühlt sich als ein Revolutionär, der mit seinem makaberen Aussehen auf die Missstände in dieser Welt aufmerksam machen will. Politische Themen spielen eine untergeordnete Rolle. „Es ist alles Spaß”, so Keiko im Ostalgie-Look. Mit der Ex-DDR hat sie eigentlich gar nichts am Hut.
Obwohl die Szene an sich nicht bedrohlich wirkt und Japans Jugend schon seit Jahren in dieser Gegend sonntags aus ihrer alltäglichen Uniformität ausbricht, verfolgen die älteren Generationen den Trend mit Unbehagen. Sie werfen den jungen Leuten vor, nur eitle Individualität und leere Spaßgesellschaft zu suchen. In der Tat scheren sich immer weniger Jugendliche um alte Ideale oder den Grundsatz, dass der Einzelne immer Teil einer Gruppe zu sein hat.
Junge wollen nicht heiraten
Zuverlässiger Büro-Samurai oder fleißige Arbeitsbiene? Nein danke! Wie ihre Eltern, die Fleiß, Demut, Sparsamkeit und Hingabe als Lebensinhalt sahen, wollen sie nicht leben. Schüler wie Minoru Yamashita sehen, wie sich ihre Väter als Firmenkrieger abrackern, die nach einem Arbeitstag müde oder vom Kollektivgelage betrunken heim kehren und in ihren kleinen Wohnungen nur auf die Schlafmatte fallen. „Selbst am Wochenende sind unsere Väter zu kaputt, um etwas mit der Familie zu tun. Sie haben keine Hobbys. Spaß macht ihnen das Leben nicht.”
Viele Ehen funktionieren wie arbeitsteilige Kollektive. Die Männer schaffen das Geld herbei, die Frauen kümmern sich um den Nachwuchs. Kein Wunder, dass ihre Kinder nicht heiraten wollen. Laut Umfrage ist für nur 20 Prozent der befragten Maturanten und Studenten die Ehe eine Notwendigkeit. Damit lagen die Japaner deutlich hinter Gleichaltrigen in Frankreich, den USA und Südkorea. Nicht gerade ermutigt werden Japans Kids von ihrem Premier. „Wenn ihr kein Geld habt, solltet ihr besser nicht heiraten“, so Taro Aso bei einer Wahlkundgebung.
Anders als ihre Eltern, die den Aufbau nach dem Krieg und den unaufhaltsam scheinenden Aufstieg zu einer Weltwirtschaftsmacht vollbrachten, wurden die Kids von heute zwar in den Wohlstand hineingeboren, aber auch im Bewusstsein groß, dass es im Uhrwerk Japan nicht mehr richtig tickt. „Es herrschen Angst und mangelndes Vertrauen in die Zukunft vor”, so Masao Hirano vom Unternehmensberater McKinsey in Tokio. Die Jungen wollen sich austoben – solange es noch richtig Spaß macht.
AUF EINEN BLICK
■Japans Bevölkerungsstruktur verändert sich dramatisch: Aufgrund niedriger Geburtenraten und hoher Lebenserwartung sind 21 Prozent der Menschen älter als 65 Jahre, 2055 werden es doppelt so viele sein. Bis 2015 soll die Zahl der 20- bis 30-Jährigen um drei Millionen sinken. Experten fordern, dass Firmen auch Älteren Jobs zur Verfügung stellen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2009)