Großbritannien: „Um Himmels Willen, gehen Sie endlich, Mann“

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Die britischen Konservativen beginnen die Kür ihres neuen Chefs – und fordern von Labour-Mann Corbyn den Rücktritt.

London. Während Großbritannien um die nächsten Schritte nach dem EU-Austritt ringt, beschäftigen sich die Staatsparteien Konservative und Labour weiter intensiv – mit sich selbst. In der Übung, so zu tun, als wäre nichts geschehen, forderte der scheidende Premierminister, David Cameron, am gestrigen Mittwoch Labour-Chef Jeremy Corbyn zum Rücktritt auf: „Um Himmels Willen, gehen Sie endlich, Mann“, sagte er. Dass Cameron selbst nach dem Scheitern beim EU-Referendum einen demütigenden Rückzug antreten muss, war ihm nicht mehr anzumerken.

Corbyn ignorierte die Aufforderung – darin hat der Labour-Chef mittlerweile Erfahrung. Am Vorabend sprach ihm die Parlamentsfraktion mit 172:40 Stimmen das Misstrauen aus. Dennoch will er weitermachen: „Ein Rückzug wäre ein Betrug an den Hunderttausenden, die mich im Vorjahr gewählt haben.“

In der ersten Direktwahl eines Labour-Chefs war Corbyn im September von 59,5 Prozent der Parteimitglieder gewählt worden. Der 67-jährige Vertreter des linken Flügels sollte der Partei eine neue Richtung geben. Mit nicht mehrheitsfähigen Positionen (etwa zur Wiederverstaatlichung) und unglücklichen Medienauftritten (auffällig sein lauwarmes Eintreten für die EU) machte er jenen in seiner Partei, die auf eine Rückkehr an die Macht hoffen, mehr Angst als den regierenden Konservativen.

Seit Sonntag verlor Corbyn 21 von 31 Mitgliedern seines Schattenkabinetts. Einen neuen Rekord stellte die bisher weitgehend unbekannte Pat Glass auf, die nach nur 48 Stunden den Rücktritt aus dem Führungskreis erklärte. „Unter den gegebenen Umständen ist eine konstruktive Arbeit nicht möglich“, erklärte sie. Dennoch kann Corbyn nur entfernt werden, wenn sich die Labour Party einer Kampfabstimmung um den Vorsitz unterzieht. Dafür werden eine Bewerbung von Corbyns bisherigem Stellvertreter Tom Watson oder der Abgeordneten Angela Eagle erwartet. Corbyn will auch im Fall einer Herausforderung erneut ins Rennen gehen.

Favoriten Johnson und May

Während bis zur Klärung der Machtfrage bei der Opposition somit noch Monate vergehen dürften, eröffneten die regierenden Konservativen gestern die Wahl um die Nachfolge Camerons. Den Anfang machte Sozialminister Stephen Crabb, der mit Wirtschaftsminister Sajid Javid ein Ticket bildet und die Partei zur Einigung aufrief. Er gilt als chancenlos.

Favoriten für den Vorsitz der Tory Party und damit das Amt des Premierministers sind der führende Brexit-Verfechter Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Beide werben hinter den Kulissen massiv um Unterstützung, wobei sie sich um hochrangige Fürsprecher bemühen. Neben seinem Anti-EU-Mitstreiter, Justizminister Michael Gove, hat Johnson mittlerweile auch Umweltministerin Liz Truss für sich gewonnen, und auch Energieministerin Amber Ruud soll dafür bereit sein. In der Referendumskampagne haben beide Ministerinnen für den Verbleib in der EU geworben und den Londoner Ex-Bürgermeister heftig angegriffen. Der Politologe Tim Bale meint aber: „Die Konservativen sind eine große Kirche. Allein das Mehrheitswahlrecht zwingt sie zum Zusammenhalt, selbst wenn ihre Positionen weit auseinander liegen.“

Nach der Nominierung durch die Parlamentsfraktion wird der neue Chef der Tories vom konservativen Parteivolk gewählt. Er soll am 9. September im Amt sein. Auch wenn manche Umfragen derzeit für May günstig aussehen, ist Johnson der erklärte „Liebling der Partei“. Nie stand er dem Amt des Premiers näher als heute.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2016)

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