Olivier Polge: Sinn und Sinnlichkeit

Modern. Im Herbst kommt Polges Neuinterpretation von N° 5.
Modern. Im Herbst kommt Polges Neuinterpretation von N° 5.(c) Beigestellt
  • Drucken

Als Parfumeur von Chanel lässt Olivier Polge sich von Legenden und Liebespaaren inspirieren. Und hat ein Monstre sacré neu interpretiert.

Wenn man es mit Wittgenstein hielte, der sinngemäß ja meinte, die Grenzen der Sprache würden die Grenzen der Welt eines Sprechers bedingen, müssten Frankophone um eine Sinneswahrnehmung ärmer sein. Schließlich kennen sie für das Fühlen und das Riechen dasselbe Verb, sentir. Für Olivier Polge ist das durchaus stimmig: „Ein Parfum ist etwas sehr Sinnliches, körperlich Erfahrbares“, sagt der neue Hausparfumeur von Chanel. Die Arbeit an „Boy“, dem neuen Exklusivduft der Luxusmarke, dürfte ihm also Freude gemacht haben: Pate ist Boy Capel gestanden, der langjährige Geliebte von Gabrielle Chanel, und Polge hat als Ausdruck dieser Liebesbeziehung den maskulinen Fougère-Akkord überarbeitet.

Was war Ihr Ausgangspunkt für „Boy“?
Der Name war vorgegeben, ansonsten hatte ich Carte blanche. Die grundlegende Idee war, die klassische Struktur der Fougère zu überarbeiten. Über Coco Chanel heißt es ja, sie habe Codes aus der Herrengarderobe übernommen und für die Damenmode adaptiert – manchmal hat sie selbst aber auch einfach Männesachen getragen. Das hat mich darauf gebracht, eine „fausse fougère“ zu kreieren, inspiriert von dem traditionellen Fougère-Akkord, der von Lavendel, Eichenmoos und Geranie getragen wird. Ich habe den Geranien-Aspekt stärker hervorgehoben – wir kultivieren ja in Grasse unsere eigenen Geranien – und wärmere Noten hinzugefügt. Das gibt dem Parfum eine sehr weiche, eine weiblichere Seite.


Sie wurden als Nachfolger Ihres Vaters, Jacques Polge, zu Chanel geholt. Die Mode der Marke hat eine sehr charakteristische Ästhetik – wie verhält es sich mit den Düften?
Was wir in der Parfumerie hochhalten, ist die Konstruktion, die Kunst der Komposition. Es zählt das berühmte Wort von Gabrielle Chanel, als sie Ernest Beaux angewiesen hat, wie sie sich ihren Duft gewünscht hat, der als N° 5 berühmt wurde: „Ich möchte ein artifizielles Parfum.“ Das Künstliche, wie wir es verstehen, ist das nicht allzu Simple, Durchkomponierte. Chanel war eine Künstlerin in der Couture, sie konstruierte ihre Kleider, ebenso wünschte sie sich ihre Düfte.


Ihre Neuinterpretation von N° 5 als „L’Eau“ wird im Herbst lanciert. War das eine Herausforderung, ist N° 5 nicht ein Monstre sacré?
N° 5 ist ein Monstre sacré, zugleich aber ein sehr interessantes Parfum mit einer starken eigenen Identität. Das ermöglicht es uns ja auch erst, an eine Neuinter-
pretation zu denken – weil es sehr klare Linien gibt, die die Komposition charakterisieren. Insgesamt habe ich versucht, der Identität des Parfums treu zu bleiben und eine etwas dynamischere Version zu kreieren.

Intim. Coco Chanel und Boy Capel – ein Liebespaar als Inspiration.
Intim. Coco Chanel und Boy Capel – ein Liebespaar als Inspiration.(c) Beigestellt


Naht das Ende der Ära der Gourmand-Düfte?
Ich hoffe es. Wenn ich von der Originalität von N° 5 spreche, denke ich auch daran. Es ist ein großer, floraler Aldehydduft, der sehr im Jetzt ist und viel bewirken kann.


Sie haben bei unserem Vorgespräch gesagt: „Ich bin gerade erst bei Chanel angekommen.“ Dabei sind Sie doch schon seit zwei Jahren für das Maison tätig. Das ist doch eine lange Zeit.
Mag sein, aber man passt sich unweigerlich dem Rhythmus eines Unternehmens an, und bei Chanel gibt es eben in der Mode wie auch in der Parfumerie eine lange Tradition. Es gibt viel zu lernen, viel zu entdecken, und das braucht seine Zeit.


Sie sind Sohn eines Parfumeurs: Hat die olfaktorische Erziehung bei Ihnen eine große Rolle gespielt?
Um ganz ehrlich zu sein: Nein, das Gefühl hatte ich nie. Mein Vater kam nie mit Pipetten und Teststreifen nach Hause und sagte: „Das ist Neroli, das ist Bergamotte, kannst du den Unterschied riechen?“ Aber natürlich, meine Mutter testete bestimmte Kompositionen, und wenn sie ihr Parfum wechselte, war das ein großes Thema. Wenn wir auf Urlaub gefahren sind, waren auch immer irgendwelche Proben im Gepäck. Parfums waren also natürlich wichtig und präsent, aber ich möchte auch keinen Mythos aufbauen, demzufolge wir von unserem Vater besonders intensiv an die Haute Parfumerie herangeführt worden wären.


Parfumeure genießen heute viel mehr Aufmerksamkeit als früher: Reflektiert das steigende Anerkennung, ist das positiv?
Aber ja, absolut. Natürlich finde ich es positiv, dass unserem Metier heute so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Auch wenn es, das ist eine begleitende Herausforderung, unumgänglich ist, die richtige Sprache zu finden. Henri Robert hat 35 Jahre für Chanel gearbeitet, ich kenne aus dieser Zeit kein einziges Interview mit ihm; mit Ernest Beaux verhält es sich ähnlich. Vor den 1980er-Jahren war es also einfach nicht Usus, mit einem Parfumeur zu reden. Mein Vater war einer der Ersten, für den sich Medienvertreter interessiert haben und der eine adäquate Sprache entwickeln musste.


Vieles, was heute über Parfums gesagt wird, wird im Internet gesagt: auf Blogs, in Online-Foren. Lesen Sie, was über Sie und Ihre Arbeit im Netz gesagt wird?
Natürlich, ich schaue mich um, oder man schickt mir Links. Blogs haben einen frischen Wind, einen Hauch von Freiheit in die Branche gebracht, und es ist aufschlussreich, sich anzuschauen, was die Menschen über Parfums sagen, welche Aspekte sie herausgreifen. Dennoch kann man natürlich nicht alles für bare Münze nehmen – vieles ist sehr subjektiv, völlig ungefiltert. Doch es entsteht eine neue Debatte über Düfte, und das hat es zuvor in dieser Offenheit nicht gegeben. Innerhalb dieses alternativen Diskurses ist es wieder so, dass häufig das Vorurteil besteht, nur kleine Maisons könnten interessante Düfte machen. Das ist Unsinn: Nicht jedes Nischenparfum ist automatisch ein gutes Parfum. Die wirklich interessanten Düfte, eine Kombination von zwei, drei Komponenten, die man in der Form noch nie gesehen hat, das ist sehr, sehr selten.

Der Autor reiste auf Einladung von Chanel zum Interview nach Paris.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.