Die slowakische Regierung, die ab Juli die EU-Präsidentschaft übernimmt, sieht die Politik der EU-Kommission in der Flüchtlingskrise äußerst kritisch und warnt vor radikalen Auswirkungen.
Bratislava. Ausgeprägter Realitätssinn und keine überhöhten Erwartungen – mit diesem Ansatz geht die Slowakei in die kommenden sechs Monate des EU-Vorsitzes. Am Donnerstag stattet die EU-Kommission dem österreichischen Nachbarland einen Antrittsbesuch ab. Und bereits jetzt ist klar, dass das kommende Halbjahr im Zeichen des Brexit stehen wird – unabhängig vom eigentlichen inhaltlichen Schwerpunkt, den sich die Slowaken gesetzt haben: dem Management der Flüchtlingskrise. Wobei die Probleme, mit denen sich die Union derzeit konfrontiert sieht, nach Ansicht des slowakischen Premiers, Robert Fico, nicht voneinander zu trennen sind: Das Votum der Briten sei „eine Reaktion auf die Politik der EU gewesen“, sagte Fico am gestrigen Donnerstag in Bratislava.
In der slowakischen Regierung ist man der Ansicht, dass die krisengeschüttelte Union zu einem Teil selbst schuld an ihrer Misere ist. „Die Europäer leben nicht in Institutionen, sondern in Nationalstaaten“, sagte Außenminister Miroslav Lajcak gestern Richtung Brüssel. Nach slowakischer Interpretation tragen Versuche, die Europapolitik von den EU-Hauptstädten zu entkoppeln und auf eine föderale Ebene zu heben, zum negativen Image der Union bei. Anders als beispielsweise die EU-Kommission sieht Bratislava den Rat – das Gremium der Mitgliedstaaten in Brüssel – bei den künftigen Verhandlungen mit den Briten in der Führungsrolle. Oder wie es Lajcak formuliert: „Der politische Takt sollte vom Rat vorgegeben werden. Aufgabe der Kommission ist es, diese Vorgaben umzusetzen.“ Denn nicht die Brüsseler Behörde, sondern die nationalen Regierungen seien von den europäischen Wählern legitimiert worden.
Warnung vor neuem Faschismus
„Manche Gesetzesvorschläge der EU-Kommission spiegeln den politischen Willen der Mitgliedstaaten nicht wider“, stellt Lajcak fest – eine Anspielung auf die Versuche der Kommission, eine europaweite Umverteilung von Flüchtlingen umzusetzen. Der Widerstand der Slowaken ist dabei ungebrochen. Anders als der Osten habe Westeuropa jahrzehntelange Erfahrung mit Multikulturalismus gesammelt, so Lajcak. „Auch unsere Gesellschaften werden sich ändern, aber das braucht Zeit. Wenn Brüssel diesen Wandel forciert, werden wir als Konsequenz Faschisten in den Parlamenten sitzen haben.“
Doch zurück zu Großbritannien: In Bratislava hofft man auf eine einvernehmliche Scheidung. Außenminister Lajcak ist zwar „für einen guten Deal mit London zu haben“, doch es dürfe kein „außergewöhnlich spezieller Deal“ sein. Vom informellen Treffen der EU-27 in Bratislava im September – das auf Initiative der Slowaken außerhalb von Brüssel stattfinden wird – erhoffen sich Premier Fico und Außenminister Lajcak eine Definition der europäischen Verhandlungsposition gegenüber London. Von Alleingängen einiger EU-Mitgliedstaaten (am vergangenen Samstag berieten etwa die Außenminister der sechs EWG-Gründungsmitglieder in Berlin) hält man in der Slowakei wenig bis gar nichts. „Wir müssen eine Situation vermeiden, in der zwei oder drei EU-Mitglieder dem Rest diktieren, was zu tun ist“, sagte Fico. Die Zukunft Europas müsse von allen mitgestaltet werden. (la)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2016)