Nach 8 1/2 Minuten

Im Inland illustrierten sie den Triumph über einen „Verräter“. Im Ausland die These von den „Austrian Brutalities“. Und für Karl Kraus markierten sie das Ende des alten Österreichs: die Fotos von der Hinrichtung des Cesare Battisti im Juli 1916. Doch wer war der Reichsratsabgeordnete und Irredentist aus Trient?

Das Bücherregal meiner Eltern war winzig: ein paar Bildbände, etliche Gartenbücher meiner Mutter, ein Atlas, um sich in der großen Welt zurechtzufinden, und die Dolomitensagen von Auguste Lechner. Das war's. Wie ich als 15- oder 16-Jähriger auf die Bücher des Journalisten und Historikers Claus Gatterer gestoßen bin, weiß ich nicht mehr. Vermutlich habe ich sie aus der Stadtbibliothek der benachbarten Südtiroler Kleinstadt Bruneck mitgebracht, wo ich ins Gymnasium ging. „Schöne Welt, böse Leut“ hieß sein Band, der mich damals am meisten faszinierte. Mit Augenzwinkern lässt Gatterer darin die Geschichte seines Dorfes – das unweit meines Heimatortes liegt – und seiner Heimat Südtirol in der turbulenten Zeit zwischen den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts Revue passieren. Was mir gefiel: Da berichtete einer von der kleinen Welt in der großen, und zwar in Bildern und Geschichten, die ich verstand.

Bald danach habe ich Gatterers schmalen Band über Cesare Battisti mit nach Hause gebracht, jenen italienischen Sozialisten und Patrioten, dessen politische Biografie eingeklemmt war zwischen Österreich und Italien. „Unter seinem Galgen stand Österreich. Cesare Battisti: Porträt eines ,Hochverräters‘“ hieß das Buch, das 1967 erstmals erschien. Von Battisti hatte ich noch nie gehört, aber auch dieses Thema interessierte mich. Es ist die Geschichte eines tragischen Helden, eines italienischen Sozialisten, der in Österreich zum Nationalisten wurde. Umjubelt von den einen, verdammt von den anderen.

Prototyp des Verräters?

Wer war dieser Cesare Battisti, der vor 100 Jahren, am 12. Juli 1916, in einem beispiellosen öffentlichen Spektakel in Trient hingerichtet wurde? Warum galt er den Österreichern als Prototyp des Verräters, den Italienern als Held der nationalen Befreiung? Und warum wurde Battisti zur Symbolfigur für ein nationales Drama, das die k. u. k. Monarchie um und nach 1900 an ihren mehrsprachigen Rändern erfasste?

1875 in Trient geboren, Gymnasium in Trient, Studium der Geografie in Wien und Mailand. Seine Muttersprache war Italienisch, aber auch Deutsch sprach er perfekt. Er hätte nach seinem Uni-Abschluss Lehrer werden können. Oder Beamter im Staatsdienst. Oder Universitätsangestellter. Hätte. Denn seine Leidenschaft für den Sozialismus und später für den Nationalismus drängte ihn in die Politik. Bereits als Student war Battisti der Trentiner Sozialdemokratie beigetreten. 1902, mit 27 Jahren, wurde er als sozialistischer Abgeordneter in den Gemeinderat von Trient gewählt. 1911 folgte der Sprungins Wiener Parlament, den Reichsrat.

Als Sozialist und Angehöriger einer Minderheit stieß er von Anfang an auf Misstrauen. „Sind Sie wegen politischer Delikte vorbestraft? Wann und weshalb?“ So hieß es im Fragebogen, den er als neuer Abgeordneter auszufüllen hatte. „Venti volte“ (20-mal) notierte er lapidar, Details nannte er keine.

Der Politiker Battisti kämpfte vor dem Krieg für ein anderes Österreich, eines, das soziale Emanzipation und nationale Minderheitenrechte gleichermaßen garantieren sollte. Noch war keine Rede von Auflösung der k. u. k. Monarchie und nationalen Alleingängen an ihren Rändern. Doch dann kam der Krieg. Rasch zeigte sich, dass der sozialistische Internationalismus gescheitert war. Am 12. August 1914, wenige Tage nach Beginn des Krieges, überschritt Battisti die Grenze zu Italien und ließ sich in Mailand, also im „feindlichen Ausland“, nieder. Er wurde zum Deserteur. Offenbar vermisste ihn in Österreich wochenlang niemand, denn erst am 6. Oktober ging in Trient eine Anzeige wegen „Hochverrats“ ein.

Allmählich wurde der Fall Battisti öffentlich und zum Politikum. Hatte es doch ein ehemaliger Abgeordneter zum Wiener Parlament gewagt, mitten im Krieg die Seiten zu wechseln. Es setzte eine mediale Hetzjagd auf den „Verräter“ ein, vor allem die konservativen und nationalen Blätter überschlugen sich in Hassparolen gegen Battisti. Er war nicht der Einzige, der 1914 seinem nationalen Heimatgefühl folgte. Immerhin fast 3000 italienischsprachige Patrioten, die innerhalb der Grenzen der Monarchie lebten, wechselten im Krieg die Seite und kämpften in italienischer Uniform. Auch unter den slawischsprachigen Österreichern gab es ähnliche Fälle. Die Strafen für Deserteure waren drakonisch.

Battisti wurde in Italien rasch zu einer Führungsfigur des „Irredentismus“, jener Bewegung, die die nationale „Erlösung“ und Einigung des Landes anstrebte. Während er als Linker den Nationalismus noch immer mit der sozialen Frage verbinden und nur das italienischsprachige Tirol Italien angliedern wollte, brachten die zunehmend stärker werdenden Rechten innerhalb der Bewegung vehement die Forderung nach der Brennergrenze ins Spiel. Am 23. Mai 1915 erklärte Italien Österreich-Ungarn den Krieg. Battisti, der in Mailand an mehreren wirtschafts- und militärgeografischen Publikationen gearbeitet hatte, zögerte keinen Augenblick, in den, wie er fand, gerechten Krieg zu ziehen. Er tat es als einfacher Soldat.

Am 10. Juli 1916 war der Krieg für ihn zu Ende. Battisti – inzwischen 41 Jahre alt – wurde zusammen mit seinem Freund Fabio Filzi, auch er Irredentist, gefangen genommen. Und zwar bei einem überraschenden Vorstoß der österreichischen Truppen an der Dolomitenfront, am Monte Corno in der Nähe von Rovereto. Dann ging alles ganz schnell: Überstellung nach Trient. Zurschaustellung als Beutestück, Hinrichtung. Am Abend des 11. Juli wurden die beiden Männer verhört, der kurze Prozess beim Landwehrfeldgericht des Militärstationskommandos in Trient fand in den Morgenstunden des 12. Juli statt, unter dem Bild des Kaisers Franz Joseph. Das Urteil stand von Anfang an fest: „Der Angeklagte Dr. Cäsare Battisti hat das Verbrechen des Hochverrats, der Angeklagte Dr. Fabio Filzi das Verbrechen des Hochverrats begangen – und werden hiefür beide Angeklagte zur Strafe des Todes durch den Strang verurteilt“, heißt es in der Begründung des Militärgerichts.

Die Hinrichtung fand in den Abendstunden des 12. Juli statt. Üblicherweise wurden Deserteure erschossen. Die beiden prominenten Gefangenen waren aber des „Hochverrats“ angeklagt. Sie wurden in einem sorgsam ausgeklügelten öffentlichen Spektakel vorgeführt und dann hingerichtet. Beide Männer mussten ihre italienische Uniform ausziehen und in einfachen Straßenanzügen vor den Henker Josef Lang treten, der eigens aus Wien angereist war. Rund um den Hinrichtungsplatz hatten zahlreiche österreichische Offiziere und Soldaten als Schaulustige Aufstellung genommen, viele von ihnen mit Kameras ausgerüstet. „Der Tod ist um 7.14 Uhr eingetreten, das heißt 81/2 Minuten nach Beginn der Hängung“, heißt es lapidar im Protokoll der Sanitätskommission.

Eines der Fotos, die mit Billigung des österreichischen Militärs entstanden, zeigt Battisti wenige Augenblick nach seiner Hinrichtung. Gatterer stellte dieses Bild seinem Buch voran. Und genau dieses Foto war es, das Battisti zur Legende machte. Eigentlich hätten dieses und alle weiteren Fotos dieser Hinrichtung nie die Öffentlichkeit erreichen sollen. Doch die Fotos aus Trient begannen unmittelbar nach der Hinrichtung ein Eigenleben zu entwickeln, das dem Militär rasch suspekt wurde. Die Bilder dokumentierten nicht nur, wie geplant, den Triumph über den nationalen „Verräter“. Bald zirkulierten sie auch in Italien, vervielfältigt als Postkarten und später, ab 1917, auch in Zeitungen. Hier wurden sie als Beweise für die Grausamkeit der k. u. k. Kriegsführung und als Belege des „Heldenmutes“ des nationalen Führers Battisti gesehen.

Die These der „Austrian Brutalities“

Wenige Tage nach der Hinrichtung, am 16. Juli 1916, verbot das Kommando der 11. Österreichischen Armee die Verbreitung aller fotografischen Bilder, die vor und während der Hinrichtung entstanden waren. Doch lückenlos ließen sich die Fotos nicht aus dem Verkehr ziehen. Sie zirkulierten in Österreich unter der Hand, vor allem in oppositionellen Kreisen, im Ausland illustrierten sie die These der „Austrian Brutalities“. Auch Karl Kraus kam schon während des Krieges in den Besitz des Hinrichtungsfotos. Bereits im Jänner 1919, unmittelbar nach dem Ende des Krieges und der Zensur, erwähnte er es erstmals in der Zeitschrift „Die Fackel“. Wenig später, 1922, setzte er die Szene als bildliches Motto an den Beginn seines Antikriegsdramas„Die letzten Tage der Menschheit“. Damit bescherte er dem Fall Battisti eine große Öffentlichkeit – und zwar weit über Österreich hinaus.

Was interessierte Kraus an diesem Bild? Nicht die Rehabilitierung des Opfers. Auch nicht die Rechtmäßigkeit der Hinrichtung. Vielmehr rückte er die Pose des Henkers und die makabre Lust der Zuschauer in den Blickpunkt. Unerträglich war für ihn die Verhöhnung des Opfers im Augenblick des Todes, die selbstgefällige Überheblichkeit der Sieger vor ihrer menschlichen Trophäe. „Nach dem Henker musste noch der Fotograf heran,“ notierte Karl Kraus. Den Wiener Henker, der „seine Tatzen über dem Haupt des Hingerichteten hält“, bezeichnet er als einen „triumphierenden Ölgötzen der Gemütlichkeit, die ,Mir-san-mir‘ heißt“. Diese Fotografie markiert für Kraus einen Umschlagpunkt in der Geschichte der Monarchie, sie ist, so heißt es in den „Letzten Tagen der Menschheit“, ein „Skalp der österreichischen Kultur“. Gatterer folgte ihm in dieser Interpretation, wenn er im Untertitel seines Battisti-Buches ebenfalls den Abgrund des Vielvölkerstaates thematisiert: „Unter seinemGalgen stand Österreich.“ Das alte Österreich, darin waren sich beide einig, endete am Abend des 12. Juli 1916 in Trient.

Nach dem Krieg verblasste in Österreich die Erinnerung an Battisti. Das Auftaktbild der „Letzten Tage der Menschheit“ wurde, wie das Werk selber, allmählich ins Allegorische abgedrängt. Die historischen Tatsachen dahinter vergaß man. In Italien hingegen rückte man Battisti als Helden ins nationalistische Licht und übertünchte die Schattierungen der historischen Persönlichkeit. Der in den 1920er-Jahren aufstrebende Faschismus usurpierte Battisti als Nationalhelden. Das 1928 in Bozen errichtete faschistische Siegesdenkmal sollte ursprünglich Battistis Namen tragen. 1935 wurde ihm in Trient ein monumentales Denkmal errichtet. Viele Schulen tragen in Italien seinen Namen. Und sogar der Berg Monte Corno, auf dem er gefangen genommen wurde, trägt in allen Wanderkarten den Zusatz Battisti – bis heute.

Es war diese geteilte Erinnerung, gegen die Claus Gatterer vor 50 Jahren anschreiben wollte. „Wer den Patrioten des anderen Landes für einen Lumpen hält, dürfte ein Dummkopf des eigenen sein.“ Diesen Satz aus der „Fackel“ von Karl Kraus hatte Gatterer an den Beginn seines Buches gestellt. Und nicht zufällig trug die Buchreihe im Europaverlag, in der 1967 Gatterers Battisti-Studie erschien, den Namen „Europäische Perspektiven“. Als ich jüngst wieder in das Buch blätterte, stieß ich auf die Selbstcharakterisierung der Reihe, die inzwischen fünf Jahrzehnte alt ist: „Wir leben“, heißt es da, „in einer geteilten Welt. Die Probleme sind zahlreicher und komplizierter, die Diskussionen aber seltener und kürzer geworden. Und doch ist das Gespräch zwischen Vertretern verschiedener Anschauungen, als ein Ringen um die Erhaltung des europäischen Geistes und humanitärer Gesinnung, um Wahrheit und Klärung, notwendig. Die Buchreihe ,Europäische Perspektiven‘ stellt Standpunkte zur Diskussion und ist bemüht, Mauern einzureißen, die zu errichten heute modern geworden ist.“ Bedenkenswert sind diese Sätze, finde ich, noch immer. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.