Fischer: Befund über Wahl-Praxis "vernichtend"

Der scheidende Bundespräsident Heinz Fischer
Der scheidende Bundespräsident Heinz FischerClemens Fabry
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Nach der Entscheidung der Verfassungsrichter gibt es für Bundespräsident Heinz Fischer keinen Grund, die österreichische Demokratie in Zweifel zu ziehen. Es gibt auch keinen "Staatsnotstand", sagt er im Interview.

Wie vernichtend ist der Befund über die Qualität der österreichischen Demokratie, wenn die Verfassungsrichter die Bundespräsidenten-Stichwahl wegen grober Mängel wiederholen lassen?

Heinz Fischer: Der Befund über die administrative Durchführung der Stichwahl im vergangenen Mai ist vernichtend, wobei nicht untergehen darf, dass der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich festgestellt hat, keine Hinweise für Wahlschwindel oder Wahlmanipulationen gefunden zu haben. Der Befund über die Qualität der österreichischen Demokratie ist aber, meines Erachtens, absolut positiv, weil Fehler in der Verwaltung durch einen funktionierenden Verfassungsgerichtshof in souveräner Weise korrigiert wurden. Es gibt also keinen Grund, die österreichische Demokratie als solche in Zweifel zu ziehen.

Ist ein weiterer Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber der Politik erwartbar?

Ich verweise auf das, was ich soeben gesagt habe. Die Aufdeckung von gravierenden Fehlern bei der Auszählung von Briefwahlstimmen hat zweifellos zu einem Vertrauensverlust geführt. Die Art, wie das in solchen Fällen zuständige Kontrollorgan, nämlich der Verfassungsgerichtshof, reagiert und eine von allen Seiten akzeptierte Antwort auf diese Fehler gefunden hat, hat den Vertrauensverlust, meines Erachtens, absolut kompensiert. Denn die Botschaft lautet: Fehlentwicklungen und Gesetzesverstöße sind möglich, aber sie werden korrigiert und sauber gelöst.

Halten Sie das Machtvakuum an der Spitze der Republik, das nun für einige Wochen besteht, für tendenziell gefährlich?

Da von den acht Bundespräsidenten der Zweiten Republik nicht weniger als fünf, nämlich Renner, Körner, Schärf, Jonas und Klestil, während ihrer Amtszeit verstorben sind, hat es ein solches, in manchen Fällen mehrmonatiges, Machtvakuum schon öfter gegeben. Es hat sich noch nie als gefährlich erwiesen, und es wird auch der Eintritt des Vertretungsfalls bis zur Vereidigung des nächsten Bundespräsidenten keineswegs als „tendenziell gefährlich“ bezeichnet werden können. Es ist übrigens auch in keiner Weise ein „Staatsnotstand“, obwohl auch dieses Wort gelegentlich – meines Erachtens unrichtiger Weise – verwendet wird.

Hätten Sie das Auftauchen einer derartigen Praxis bei einer Wahl erwartet?

Ich bin auch sehr unangenehm berührt, aber ich würde das nicht als ein Defizit unserer Demokratie betrachten, sondern als ein Defizit im Bereich der exakten und vernünftigen Einhaltung von Vorschriften.

Ist eine gewisse Nonchalance im Umgang mit Gesetzen nicht typisch österreichisch?

Nicht umsonst gibt es den bitteren Scherz, dass in Deutschland alles verboten ist, was nicht erlaubt ist, in England alles erlaubt ist, was nicht verboten ist und in Österreich alles erlaubt ist, was verboten ist.

Sagt das etwas über die Moral der Österreicher aus, oder woher kommt das?

Über Moral hätte das etwas ganz Schlimmes ausgesagt, wenn Wahlfälschung versucht worden wäre. Wenn es die üble und verdammenswerte Absicht gegeben hätte, das Ergebnis der Wahl zu Gunsten oder zu Lasten eines Kandidaten zu verfälschen. Wenn es Schlamperei auf breitester Basis gibt, kann das ebenfalls nicht akzeptiert werden und muss rigoros abgestellt werden. Insofern vergleiche ich das mit dem Weinskandal, der einen Schock ausgelöst, aber langfristig die Qualität erhöht hat. In Zukunft werden Wahlen auch im Hinblick auf die Einhaltung der Wahlgesetze vorbildlich sein.

Welche Konsequenzen sollte man daraus ziehen? Eine Partei, die in Umfragen vorn liegt, hat offenbar Schwierigkeiten, Wahlbeisitzer in ausreichender Anzahl zu stellen.

Ich fürchte, dass sich die Zahl der Menschen, die bereit sind, auf freiwilliger Basis als Wahlbeisitzer zu fungieren, stark verringern könnte.

Weil sie Angst haben?

Weil sie sagen, ich stehe mit einem Fuß im Kriminal, wenn ich einen Fehler mache. Wenn nötig, muss man die Wahlbeobachtung und Auszählung professionalisieren. Auf Kontrolle kann nicht verzichtet werden.

Interpretieren Sie die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlgänge als Zäsur?

Es ist ein neues Kapitel im Buch der Bundespräsidentenwahlen aufgeschlagen. Die Tatsache, dass weder ein Kandidat der SPÖ noch der ÖVP in die Stichwahl gekommen ist, ist ein Novum in der Zweiten Republik. Zweitens ist das Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen einem Kandidaten aus dem Lager der Grünen und der Freiheitlichen etwas, was sich vor zwölf Monaten niemand realistisch vorgestellt hat.

Hat dieses Ergebnis Auswirkungen auf die Parteienlandschaft insgesamt?

Es hat nicht die Bundespräsidentenwahl Auswirkungen auf die Parteienlandschaft, sondern es hat die Veränderung in Struktur und Stärke der Parteienlandschaft massiv auf die Bundespräsidentenwahlen durchgeschlagen.

Jetzt verwende ich eine Formulierung, die man mit dem Bundespräsidenten assoziiert: Erfüllt Sie diese Entwicklung mit Sorge?

Es ist eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Unser politisches System verändert sich. Wir haben 1945 dort fortgesetzt, wo die Demokratie Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre geendet hat. Weil sich das beim Wiederaufbau enorm bewährt hat, hat es ein großes Beharrungsvermögen der politischen Strukturen gegeben. Diese Erstarrung und diese geringe Modernisierungsdynamik haben dazu geführt, dass der „alte Parteienstaat“ in seinen tradierten Formen immer mehr an Substanz verloren hat. Die zentrale Aufgabe der Parteien, verschiedene Meinungen zu abstimmbaren Alternativen zu bündeln, bleibt ein fixer Bestandteil der Demokratie. Aber sie muss unter sich rapide verändernden Rahmenbedingungen erfüllt werden.

Müsste man nicht die politischen Spielregeln an die neuen Gegebenheiten anpassen?

Eines der besonders schwierigen Kapitel ist das Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Da stehen Machtfragen so im Vordergrund, dass es eine nicht gelöste Aufgabe ist, das Verhältnis zwischen Bundes- und Landesebene fit zu machen für das 21. Jahrhundert.

Was sind die Gründe dafür, dass sich das Machtverhältnis im Laufe der Jahrzehnte zu Gunsten der Bundesländer verschoben hat?

Weil die politischen Parteien einen Dezentralisierungsprozess durchgemacht haben und die Bindungskraft in den politischen Parteien schwächer geworden ist. Die pluralistische Gesellschaft hat die Zentralautorität der Parteien untergraben. Ein Landeshauptmann hat eine stabilere Position als ein Regierungschef im Bund.

Das heißt, der Bundeskanzler ist eigentlich in einer zu schwachen Position.

Es geht nicht speziell um den Bundeskanzler, sondern um die Bundesregierung als Ganzes und auch um die Regierungsparteien, die als Bundesparteien in wachsendem Maß auf ihre regionalen Kräfte Bedacht nehmen müssen. Bei Änderungen in der Zusammensetzung der Bundesregierung wird uns oft in sichtbarer Weise vor Augen geführt, wie sehr von Seiten der Länder auf die Regierungspolitik und auch auf die Zusammensetzung der Bundesregierung Einfluss genommen wird.

Wie vor Kurzem durch den Wechsel der Innenministerin nach Niederösterreich.

Das haben jetzt Sie als Beispiel genannt.

Bei Ihrer ersten Wahl gab es eine hohe Erwartung im Hinblick auf Reformen. Wird in den Bundespräsidenten zu viel projiziert?

Es gibt einerseits einen Schuss Erwartungshaltung in Richtung „starker Mann“: Der Bundespräsident soll die Arbeitslosigkeit reduzieren, die Wohnungsnot überwinden. Noch stärker ist die Erwartung, der Bundespräsident soll ein ruhender Pol sein, ein Symbol einer berechenbaren, verlässlichen, wohlüberlegten Staatsführung und in der Lage sein, bei Konflikten ordnend einzugreifen. Was ganz sicher nicht geht, ist, diese beide Rollen gleichzeitig zu erfüllen. Gerade angesichts der Diskussion über die Rolle des Bundespräsidenten und den berühmten Satz – „Sie werden sich noch wundern, was alles geht“ (FPÖ-Kandidat Norbert Hofer; Anm.) – wäre es vorstellbar gewesen, dass ein Bundespräsident sagt, ich betrachte mich als Gegenpol zur Regierung, ich will der Politik der Mehrheitsparteien im Nationalrat nicht mehr zuschauen, ich werde alle Befugnisse, die in der Verfassung stehen, voll ausschöpfen, um das Regierungsruder herumreißen. Das würde den Bundespräsidenten aus der Funktion des Wahrers der Verfassung und der Kontinuität ausklinken. Er wäre mitten drinnen im politischen Getümmel. Und es würde dem Gesamtinteresse unserer Republik nicht nur nicht nützen, sondern schaden.

Ist da die Verfassung, die aus einer Zeit stammt, als es bereits deutlich autoritäre Vorstellungen gab, noch zeitgemäß?

Man kann die Verfassung von zwei Seiten lesen. Einerseits, dass der Bundespräsident sehr große Befugnisse hat, er kann die Regierung entlassen, er hat freie Hand bei der Wahl des Bundeskanzlers. Auf der anderen Seite ist in der Verfassung festgelegt, dass der Bundespräsident Rechtsakte, soweit verfassungsrechtlich nicht anders bestimmt, nur über Antrag der Regierung setzen kann. Es hat sich eine vernünftige Praxis eingebürgert, die sich 70 Jahre bewährt hat. An dieser Praxis sollte festgehalten werden. Wenn man die Verfassung genau studiert, gibt es eine sehr gute Arbeits- und Machtteilung zwischen Parlament, Bundespräsident und Regierung.

Wenn Sie Ihre Amtszeit Revue passieren lassen, was war das schwierigste Thema?

Das quantitativ gravierendste Problem war die Wirtschafts- und Finanzkrise, und sie dauert ja auch schon acht Jahre. Das schwierigste aktuelle Thema ist das Flüchtlingsthema. Die Tatsache, dass es so schwer ist, gute gemeinsame Antworten in Europa zu finden, ist sicher das, was mich am stärksten bedrückt.

(Print-Ausgabe, 03.07.2016)

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