Nostradamus: Von der Kunst, wirklich alles vorherzusagen

Seine Warnungen machten sogar  Frankreichs Königen Angst: Nostradamus (1503–66) ist hier als Beobachter der Gestirne, Gelehrter und prophetischer Warner dargestellt.
Seine Warnungen machten sogar Frankreichs Königen Angst: Nostradamus (1503–66) ist hier als Beobachter der Gestirne, Gelehrter und prophetischer Warner dargestellt.Michel de Nostredame, Porträt von seinem Sohn César de Nostredame/Sasha I
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Er gilt als Inbegriff der Prophetie: Wer war Michel de Nostredame, in dessen Versen die Nachwelt fast alle wichtigen Ereignisse geweissagt sah und sieht? Warum faszinieren seine kryptischen 942 Verse bis heute?

Angst herrschte bei manchen Menschen vor dem 11. August 1999. Dass an diesem Tag in Teilen Europas eine totale Sonnenfinsternis zu sehen sein würde, war allgemein bekannt. Doch sensationsfreudige Medien schrieben auch von einer Nostradamus-Prophezeiung, die für dieses Datum die Ankunft eines „Schreckenskönigs“ vorhersagte. Würden Aliens kommen? Würde ein Komet vom Himmel stürzen? Würde eine Raumsonde abstürzen? Die Welt untergehen?

Tatsächlich heißt es in der betreffenden Prophezeiung, die als eine der ganz wenigen eine genaue Zeitangabe enthält: „Das Jahr 1999 sieben Monate. Vom Himmel wird kommen ein großer König des Schreckens, wieder auferstehen lassen wird er den großen König von Angoulmois, vor – nachher Mars herrscht glücklich.“ Für den „großen König des Schreckens“ hatten die Deuter viele Erklärungen parat, aber der „König von Angoulmois“ blieb ein unlösbares Problem.

Letztendlich geschah – nichts. Und Michel de Nostredame schien sich geirrt zu haben. Schien. Wenn der französische Apotheker, Arzt und Gelehrte Mitte des 16. Jahrhunderts nur wirklich all die Voraussagen gemacht hätte, die man ihm im Lauf von fast einem halben Jahrtausend in den Mund gelegt hat . . . Unzählige, ja fast alle wichtigen Ereignisse der Geschichte glaubten Menschen im Nachhinein von ihm klar prophezeit: die Französische Revolution oder den Aufstieg Napoleon Bonapartes zum Kaiser Frankreichs, die Welt- und die Irak-Kriege, den Fall des Kommunismus . . . Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.


Weissagungen für 2016. Im Nachhinein lässt sich zu fast jedem Ereignis der Weltgeschichte ein passender unter den 942 bilderreichen und kryptischen Versen finden. Immer dann freilich, wenn man aus den Vierzeilern nicht die bereits Vergangenheit gewordene „Zukunft“ herauslesen wollte, sondern konkrete Ereignisse, die noch nicht passiert waren, sank die Trefferquote beträchtlich.

Es sei denn, das angeblich von Nostradamus Prophezeite war ohnehin äußerst wahrscheinlich. Dem Onlinemagazin Viversum.at zufolge sagte Nostradamus zum Beispiel für 2016 voraus, dass „der Mittlere Osten brennen und von zahlreichen Explosionen erschüttert“ wird, es werde „Naturkatastrophen und Wetterphänomene“ geben; und Israel (eigentlich „Jerusalem“) werde „von allen Seiten belagert“ und von einer „großen westlichen Flotte aus der neuen Welt“ unterstützt. Für derlei „Prophezeiungen“ braucht es nicht die „göttlichen Visionen“ und astrologischen Berechnungen eines vor 450 Jahren Verstorbenen . . .


Medizin und Gestirne. Wer war dieser Mann, der sich latinisiert Nostradamus nannte, und wie konnte er zum Inbegriff der Prophezeiungskunst werden? Keinem anderen haben so viele Menschen so viele Vorhersagen konkreter historischer Ereignisse zugeschrieben. Kein anderer wurde zugleich so unermüdlich von Kritikern entmystifiziert: Mit seinen Versen könne man alles und nichts vorhersagen, so der Tenor der Kritiker. Orson Welles übernahm zwar die Rolle des Erzählers in einem Dokumentarfilm über Nostradamus („The Man Who Saw Tomorrow“), hielt aber trotzdem herzlich wenig von dessen „Visionen“: Man könnte genauso gut zufällige Stellen aus dem Telefonbuch hernehmen, sagte er in einem Interview zum Film.

Dass Ärzte und Apotheker der Renaissance sich mit der Deutung der Gestirne beschäftigten und Horoskope zur medizinischen Behandlung gehörten, wie bei Nostradamus, war mehr die Regel als die Ausnahme. Michel de Nostredame stammte aus Südfrankreich, den Namen Nostredame hatte sein jüdischer Großvater gewählt, als er zum Katholizismus übergetreten war. Sehr jung ging er nach Avignon, eine der damals bedeutendsten französischen Städte. Er verließ die Universität aber nach einem Jahr wieder wegen der Pest. Ein unglaubliches Gedächtnis bescheinigten Freunde ihm, Heiterkeit, aber auch Spottlust. Und – sie nannten ihn „den jungen Astrologen“, weil er seinen Kameraden eifrig die Gestirne erklärte. Nostredame studierte danach Medizin, reiste viel und veröffentlichte 1550 den ersten von etlichen astrologischen „Almanachen“, Sammlungen von rätselhaft klingenden Prophezeiungen für jeweils ein Jahr. Ab da nannte er sich „Nostradamus“ – „Astrologe“ nie, nur „Astrophiler“, also Sternenfreund. Er könne den Gang keines einzigen Gestirns berechnen, kritisierte ihn ein Bekannter. Auch sein Horoskop für Rudolf von Habsburg sollte sich als fast völlig falsch erweisen.

1555 erschien schließlich das Werk, das seinen Nachruhm begründen sollte: die „Prophéties“. Sein Name war damals schon so bekannt, dass die französische Königin Katherina von Medici ihn an ihren Hof rief. Warum? Vermutlich weil Nostradamus den König vor Gefahren warnte, über die er sich nicht zu schreiben getraue. Besser konnte einer die Aufmerksamkeit von Königen kaum auf sich lenken – sofern er es darauf angelegt hatte.

Und: sich Feinde verschaffen. Sie kamen aus allen Ecken, aus Frankreich und England, aus dem Katholizismus und Protestantismus, aus geistlichen und weltlichen Kreisen; Gegner der Astrologie waren ebenso darunter wie konkurrierende Astrologen. Pamphlete wurden gegen ihn verfasst, er wurde kurz eingesperrt. 1566 starb er. Dass er Epileptiker war, bleibt eine Vermutung – er habe seine Zukunftsvisionen unter anderem in einer Art Trance empfangen, schreibt er im Vorwort seiner „Prophezeiungen“. Er gab noch mehrere weitere „Methoden“ an, äußerte sich auch widersprüchlich darüber. Eine erwähnte er nie – nämlich die Inspiration durch andere Prophezeiungen und historische Texte. Tatsächlich hat er, wie die Bezüge zu anderen Autoren zeigen, genau davon ausgiebig Gebrauch gemacht. Dass der Weltuntergang in seinen „Prophezeiungen“ eine so große Rolle spielt, dürfte nicht nur mit seinem strengen Katholizismus, sondern auch mit seinem Interesse an jüdischer Mystik zu tun haben.

Warum verschlüsselt? Er wolle „Frauen und Kinder vor der grausamen Wahrheit schützen“, behauptete Nostradamus, deshalb habe er die Visionen verschlüsselt. In den 942 Versen kommen so gut wie keine Zeitangaben vor, der Inhalt ist vieldeutig und voller rätselhafter Bilder. Und genau diese Vieldeutigkeit ist es, die seit fast einem halben Jahrtausend immer wieder neue Generationen fasziniert. In den geheimnisvollen Versen vermeinen sie verschwommen ihre jeweilige Gegenwart und Vergangenheit zu erkennen, wie in einem sich verdunkelnden Spiegel. „Die Prinzen und Lords werden gefangen gehalten in Gefängnissen. In der Zukunft von kopflosen Dummen. Das wird als göttliche Äußerung gesehen“, schrieb Nostradamus, zwei Jahrhunderte später sah man dies als Vorhersage der Französischen Revolution. Es passte ja wirklich gut. Bedenkt man freilich, dass die Prophezeiungen, wie Nostradamus angibt, einen Geltungszeitraum bis zum Jahr 3797 haben (also 2242 Jahre), war es unvermeidlich, dass ein politisches Ereignis einmal auf diese Sätze perfekt passen würde. Und wenn nicht, half die Fantasie nach. „Das Wunder an Nostradamus“, sagte der Philosoph Max Dessoir, „ist nicht sein Text, sondern die Auslegekunst seiner Erklärer.“

zur Person

1503
geboren in der Provence.

1518
Beginn des Studiums in Avignon, vorzeitiger Abbruch wegen Pestausbruchs. Nostradamus wird Apotheker, später studiert er Medizin.

1550
Nostradamus beginnt Almanache mit Prophezeiungen für jeweils ein Jahr zu verfassen.

1555
Er gibt in Lyon „Les Prophéties de M. Michel Nostradamus“ mit vier sogenannten Centurien heraus, bestehend aus dreimal hundert und einmal 53 Vierzeilern (Quatrains).

1566
Tod des schwer Gichtkranken. In der Französischen Revolution wird sein Grab 1791 von Nationalgardisten geschändet, die Knochen werden zerstreut.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2016)

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