"Pack deine Sachen und verschwinde"

A Polish delicatessen is seen in Hammersmith, west London
A Polish delicatessen is seen in Hammersmith, west LondonREUTERS
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Nach dem Brexit erlebt Großbritannien ein Aufflammen von Fremdenfeindlichkeit. Mancher meint, seine Stunde sei nun gekommen. Doch die Probleme liegen tiefer.

Als Sophie am Dienstag nach Hause kam, fand sie ihr Kindermädchen in Tränen aufgelöst. „Ich gehe weg von hier“, kündigte die ältere Frau aus Polen der jungen Anwältin aus Südlondon an. „Meine Kinder werden in der Schule verhöhnt, ich werde auf der Straße beschimpft. Ich halte es nicht mehr aus.“ Seit der Entscheidung der Briten gegen die EU-Mitgliedschaft häufen sich im ganzen Land derartige Vorfälle. Premierminister David Cameron sprach von „abscheulichem Rassismus“.

In Boston, der Rekordgemeinde mit 75 Prozent Brexit-Stimmen, sagte ein Gast zu einer polnischen Kellnerin: „Mich wundert, dass du so fröhlich bist. Du hast 48 Stunden, um deine Sachen zu packen und zu verschwinden.“ In Westlondon wurde das polnische Kulturzentrum mit rassistischen Graffiti beschmiert. In der Grafschaft Cambridgeshire wurden Zettel mit den Worten verteilt: „Polnisches Ungeziefer, verschwindet!“ Englische Fußballfans bejubeln den EU-Ausstieg und singen vom „Vergasen“.

In Manchester wurde ein dunkelhäutiger Mann in der Straßenbahn von drei Jugendlichen angegriffen: „Verschwinde nach Afrika!“ Der Mann ist in den USA geboren, britischer Staatsbürger und hat hier sieben Jahre in der Armee gedient. Im Wahlkreis Wakefield wurden Ausländer auf der Straße aufgefordert: „Wir haben raus gewählt. Also pack deine Sachen und verschwinde.“ In Newcastle verlangten Demonstranten „Stop Immigration. Start Repatriation.“

Einer deutschen Familie in Nordlondon wurden Fäkalien durch den Briefschlitz geworfen, eine Französin wurde öffentlich als Ausländerin beschimpft und aufgefordert, Englisch zu sprechen. In Großbritannien geborene Asiaten werden als „Paki“ bezeichnet, ein geächtetes Schimpfwort.

In den Tagen nach dem Referendum verzeichneten die Behörden einen Zuwachs an rassistischen Übergriffen von fast 60 Prozent. Die Facebook-Seite „Worrying Signs“ liefert eine Chronik der laufenden Untaten. Die Täter erweisen sich dabei als paradoxe Vorreiter der Gleichbehandlung aller Rassen: Sie hassen alle Ausländer gleich.

Die Täter sind eine homogene Gruppe: Meist handelt es sich um weiße Männer, von denen nun viele glauben, ihre Stunde sei gekommen. „Mach' die Straße frei und verpiss' dich in dein verdammtes Heimatland“, brüllt einer einen asiatischen Taxifahrer im Osten Londons an. Die angebliche multikulturelle Musterstadt London erweist sich dieser Tage in erschreckendem Ausmaß in Übereinstimmung mit dem Rest des Landes.

Große Zuwanderung. Großbritannien hat in den vergangenen 15 Jahren außerordentlich hohe Zuwanderungsraten erlebt, nachdem das Land bei der Erweiterung der Europäischen Union 2004 auf Übergangsfristen verzichtet hatte. Nach Schätzungen sind seither rund 3,3 Millionen Menschen ins Land gekommen, mehr als die Hälfte stammt nicht aus der EU. Die Wirtschaft hat von billigen Arbeitskräften profitiert, aber kein Brite hat wegen eines Zuwanderers seinen Job verloren: Es herrscht Rekordbeschäftigung. Sie übernehmen jene Arbeiten, die Briten schon langenicht mehr machen.

Aber es ist ein harter Wettbewerb im Gang zwischen jungen, billigen und teuren, alten Arbeitnehmern. Zudem brachte die Zuwanderung massive Veränderungen und enorme Belastungen, die durch die Sparpolitik der Regierung noch verschärft wurden. „Wir können nicht jedes Jahr Einwanderung im Ausmaß der Bevölkerung von Newcastle verkraften“, erklärte das Brexit-Lager. Die Stadt an der Tyne im Nordosten Englands hat 280.000 Einwohner.

Erst als die Leave-Kampagne auf das Thema Immigration setzte, kam sie in Schwung. Mit allen Mitteln wurden Ressentiments geschürt und Stimmungen verstärkt. Man setzte auf brutale Offenheit (die „halb kenianische Abstammung“ von US-Präsident Obama) ebenso wie auf unterschwellige Töne (das Video mit dem überfüllten Wartezimmer voller grimmiger Ausländer). „Auf einmal war es o. k., offen rassistische Dinge zu sagen“, meint eines der Opfer der vergangenen Tage.

Immer mehr Hate Crimes. „Dog-whistle politics“ nennen die Briten jene Propagandatechnik, in der man ein Klima schafft, das „den Menschen das Gefühl gibt, sie dürfen nun endlich sagen, was sie immer schon sagen wollten“, sagt Kehinde Andrews, Professor an der University of Birmingham, zur „Presse“. Dass die EU-Gegner auf ein derartiges Echo stoßen, wirft ernste Fragen auf. „Zumindest liegt es jetzt für jeden offen: Wir sind eine zutiefst rassistische Gesellschaft“, sagt Andrews.

50 Jahre nach Verabschiedung des Race Relation Acts kann von Gleichstellung keine Rede sein: Eine weiße Durchschnittsfamilie hat Güter (Immobilien, Ersparnisse etc.) im Wert von 221.000 Pfund (rund 263.000 Euro), eine schwarzafrikanische Familie hält bei 15.000 Pfund. In Verwaltung, Justiz, Politik und Polizei sind Minderheiten klar unterrepräsentiert. Die Fälle polizeilich dokumentierter Hate Crimes stieg allein von 2014 auf 2015 in England und Wales um mehr als 18 Prozent. Mit großem Abstand häufigstes Delikt waren rassistische Übergriffe. Aktivisten gehen davon aus, dass bis zu 90 Prozent der Vergehen nicht gemeldet werden.

Jene, die sich benachteiligt, betrogen oder beraubt vom System fühlen, richten ihren Zorn gegen jene, die noch schwächer und rechtlich ungeschützt sind. Nicht umsonst drapieren die Ausländerfeinde den Union Jack um sich, als wäre die britische Fahne eine Rüstung, die unverwundbar macht. Nach dem jüngsten „British Social Attitudes Survey“ haben 65 Prozent der Arbeiterklasse und 48 Prozent der Mittelklasse ausländerfeindliche Ansichten. Als „Rache der betrogenen englischen Arbeiterklasse“ bezeichnet der frühere Labour-Politiker Denis MacShane das Referendumsergebnis.

Geteiltes Land. Paul Bagguley von der University of Leeds meint: „Das Land ist geteilt in zwei Drittel bis drei Viertel tolerante Menschen und ein Viertel bis ein Drittel Menschen mit intoleranter Haltung.“ Neu sei nun aber nach dem Referendum: „Ein Teil dieses Drittels fühlt sich jetzt bestärkt.“ Ausländerfeindlichkeit ist plötzlich aus der Schmuddelecke ins öffentliche Geschehen gerückt: „Wir erleben einen jubelnden Rassismus“, sagt Bagguley.

Das Bild Großbritanniens als Musterbeispiel einer toleranten, offenen und erfolgreichen multikulturellen Gesellschaft erhält in diesen Tagen tiefe Risse. Von jenen, die diese Geister heraufbeschworen, ist dazu nun auffällig wenig zu hören.

Wie sie es mit der Verantwortung halten, hat diese Woche Boris Johnson gezeigt. Die gebrochenen Versprechen sprechen schon jetzt Bände. Umso unausweichlicher werden die Stimmungen, die sie geschürt haben, Folgen haben.

Zahlen

3,3 Millionen Menschen sind in den vergangenen 15 Jahren nach Großbritannien gekommen. Mehr als die Hälfte stammt nicht aus der EU.

60 Prozent – um so viel ist die Zahl der rassistischen Übergriffe, die die britischen Behörden verzeichnet haben, nach dem Referendum gestiegen. Die meisten Vergehen werden aber wohl gar nicht gemeldet.

65 Prozent der britischen Arbeiterklasse und 48 Prozent der Mittelklasse haben nach einer jüngsten Studie ausländerfeindliche Ansichten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2016)

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