Rücktrittswelle nach dem Brexit: Die Chefetage der drei größten Parteien ist praktisch leer geräumt. Nun geht auch UKIP-Anführer Nigel Farage, der vehementeste Befürworter eines EU-Austritts.
London. Schneller als die Opfer in Agatha Christies Krimi „Und dann gab's keines mehr“ ihr Leben verlieren, löst sich das Lager der britischen EU-Gegner auf. Das Drama um den konservativen Spitzenpolitiker Boris Johnson fand gestern seine Fortsetzung als Farce mit dem Rücktritt des Rechtspopulisten Nigel Farage: „Ich wollte mein Land zurück. Das haben wir erreicht. Nun will ich mein Leben zurück“, sagte der bisherige Chef der United Kingdom Independence Party (UKIP) am Montag in London.
Der 52-jährige Farage ist ohne Zweifel der umstrittenste Politiker Großbritanniens. Praktisch im Alleingang formte er aus einer „Partei der Verrückten, Beklopften und versteckten Rassisten“ (so der scheidende Premier, David Cameron, einst) eine Partei, die das britische Duopol aus Konservativen und Labour aufgebrochen hat und heute die drittstärkste Kraft im Land ist. Sie sammelt mittlerweile Proteststimmen aus allen Lagern.
Die Stimme des kleinen Mannes
Ursprüngliche Mission von UKIP war der EU-Austritt. „Als ich vor 17 Jahren hierherkam, sagte ich, dass ich Großbritannien aus der EU führen will“, meinte Farage in der Vorwoche in einem für ihn typisch turbulenten Auftritt vor dem Europaparlament. „Damals haben Sie über mich gelacht. Heute scheint Ihnen das Lachen vergangen zu sein“, höhnte er.
Farage stilisierte sich erfolgreich zur Stimme des kleinen Mannes und wurde der Politiker, mit dem die Briten am liebsten auf ein Bier und eine Zigarette gehen wollten. Dass er Empörendes sagte („Ich würde mich auch unwohl fühlen, wenn neben mir eine rumänische Familie einzieht“), machte ihn für viele nur noch volksnäher: Endlich einer, der sich traute, die Dinge beim Namen zu nennen. Andere lehnten ihn umso entschiedener ab. Keiner polarisierte so wie Farage. Keiner wusste davon so zu profitieren wie er.
Vier Millionen Stimmen bei Wahlen
Farage, der vor dem Wechsel in die Politik in der Londoner City als Aktienhändler gearbeitet hat und keine Geldsorgen kennt, hat den Briten vorgegaukelt, es gebe eine Rückkehr in eine angeblich glückliche, problemfreie Vergangenheit – ohne EU, ohne Ausländer (bzw. nur eine handverlesene Quote) und ohne politische Korrektheit. In der Annahme, dass alle Politiker lügen und nicht vertrauenswürdig sind, fanden viele Briten in ihm zumindest einen Tribun ihres Zorns. Mit vier Millionen Stimmen und 13,2 Prozent führte Farage die UKIP in der Parlamentswahl im Vorjahr zu ihrem bisher größten Erfolg.
Sammelbecken der Nationalisten
Das britische Mehrheitswahlrecht sorgte aber dafür, dass die Partei nur einen von 650 Sitzen gewann. Viele Wähler, die sich davon betrogen fühlten, stimmten am 23. Juni für den Brexit. Farage sagte, seine Mission sei nun erfüllt: „Ich habe meinen Beitrag geleistet.“ Doch der Aufstieg seiner Partei hat möglicherweise erst begonnen. „Mit einer weniger polarisierenden Führungsgestalt könnte die Partei sowohl unzufriedene Labour-Wähler im Norden als auch enttäuschte Konservative im Süden gewinnen“, meint der Politikwissenschaftler Matthew Goodwin.
Als Partei des englischen Nationalismus steht UKIP bei einem möglichen Zerfall Großbritanniens als Sammellager bereit. Schon in den vergangenen Tagen war von Druck der größten Geldgeber der Partei auf ihren Anführer zu hören. Bisher war die Partei ohne Farage, der schon in der Vergangenheit zweimal zurückgetreten war, aber nicht lebensfähig. Zeit seines politischen Lebens hat Farage an der Destabilisierung der bestehenden Ordnung gearbeitet, und in seinem Rücktritt leistete er einen weiteren Beitrag. Großbritannien ist politisch praktisch führungslos. Die oppositionelle Labour Party spielt weiter ihr Dauerdrama „Eine Partei sucht einen neuen Vorsitzenden“, und die regierenden Konservativen setzen die Liveaufführung von „House of Cards“ fort.
Wer fordert Theresa May heraus?
Fünf Kandidaten gehen heute, Dienstag, in die erste Runde der Wahl eines neuen konservativen Partei- und damit auch Regierungschefs. Zunächst haben die Tory-Abgeordneten das Wort, bis nur mehr zwei Bewerber übrig sind, über die dann das Parteivolk entscheidet. Als spannendste Frage gilt mittlerweile, wer es schafft, Innenministerin Theresa May herauszufordern.
Ungeklärt und seltsam in den Hintergrund getreten ist indes die Frage der Zukunft des Landes. Nachdem der EU-Austritt zur Schicksalsfrage erklärt worden ist, will nun niemand den Exit auslösen. Eine führende Rechtsanwaltskanzlei hat nun eine Klage angekündigt, sollte die Regierung ohne Beratung im Parlament den Artikel 50 des Lissabonner Vertrags auslösen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2016)