Festspiele Reichenau: Doderer für tolle, starke Damen

FESTSPIELE REICHENAU: FOTOPROBE 'DODERERS DAeMONEN?
FESTSPIELE REICHENAU: FOTOPROBE 'DODERERS DAeMONEN?APA/HANS PUNZ
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Das bisher größte Wagnis mit Roman-Dramatisierungen ist geglückt, „Die Dämonen“ sind ein Ereignis: sprachlich perfekt und überwiegend überzeugend besetzt.

„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten . . .“, notierte Goethe zu Beginn seines „Faust“. Viele kennen das: Plötzlich drängt sich die Vergangenheit lebhaft ins Heute. Vertraute oder vergessene Gestalten schweben, Stimmen flüstern. So beginnen auch Doderers „Dämonen“, seit Montagabend im Neuen Raum des Reichenauer Theaters zu erleben. Sektionsrat Geyrenhoff, der nach einer Erbschaft den Staatsdienst quittiert, zeichnet die Geschichte seines Bekanntenkreises, genannt „Die Unsrigen“, auf.

Ob das Werk, das zunächst „Dicke Damen“ heißen sollte, mit diesem Titel ebenso berühmt geworden wäre wie mit dem an Dostojewski erinnernden? Wahrscheinlich. Auf rund 1400 Seiten sprengt Doderer alle Formen und Formalitäten, anders als in seiner verwandten „Strudlhofstiege“ tritt er erzählerisch quasi über die Ufer, schwelgt in überbordenden Charakterbeschreibungen, Lob der Stadt und der Landschaft. Nicolaus Hagg hat das Personal auf 15 Figuren reduziert. Die Dialoge erklären teilweise deren Geschichte. Doderers blumiger Sprachstrom wurde reguliert. Die Aufführung wirkt nüchterner, aber auch freundlicher als das Buch. Man muss „Die Dämonen“ nicht im Theater zeigen, aber wenn man es tut, dann so.

Aus dem Ersten Weltkrieg kehrten die Männer heim in eine zerstörte Welt. Sie träumten von Urmüttern, die sie mit üppigen Formen und ruhigem Wesen trösten sollten – über den Schrecken hinweg. Stattdessen fanden sie schlanke Girls in Charleston-Kleidern vor, die sich emanzipieren wollten, in der Partner- wie in der Berufswahl. Der Möchtegernautor Kajetan Schlaggenberg gibt Annoncen auf, um nach dicken Damen zu fahnden, deren Maße er aufschreibt. Der sprunghafte Bohemien Schlaggenberg (Sascha Oskar Weis), dem seine Angetraute nach England durchging, ist eins von drei Alter Egos des Autors.

Großartig: Arrouas, Kofler, Matić

Die anderen zwei sind der schwierige Gelehrte, Historiker und Hexenforscher René Stangeler (David Oberkogler) und eben Geyrenhoff (Joseph Lorenz), dem es zum Unterschied von Doderer selbst gelingt, seine Gefährdungen, seine Wut hinter der Maske des bürgerlichen Intellektuellen zu verbergen.

Großartig sind Johanna Arrouas als Charlotte Schlaggenberg und Karin Kofler als Grete Siebenschein. Grete hat es mit ihrem unberechenbaren Kindmann René schwer, sie bändigt ihn, indem sie ihn aussperrt, wie man es mit trotzigen Buben tut. Arrouas' Charlotte ist die Bewunderin bedeutender oder vermeintlich bedeutender Herren. Nachdem ihre wahre Herkunft aufgedeckt und sie in den Besitz eines großen Vermögens gelangt ist, muss sie nicht mehr das Cello „quälen“ und heiratet einen Diplomaten.

Happy End für Liebespaare

Umwerfend ist Peter Matić, ein geplagter Vater, dieser Anwalt Ferry Siebenschein, dem man nachfühlen kann, dass er gern dem Cognac zuspricht, „hinterm Schiller“, in der Bibliothek. Um zwei Damen der alten Schule dreht sich das Karussell der „Unsrigen“, sie sind hier jung besetzt: Mary K. (Julia Stemberger) gewinnt den Arbeiter Leonhard (Philipp Stix, ein grandioser Typ), die schöne, einsame Friederike Ruthmayr (Fanny Stavjanik) umwirbt den eleganten Geyrenhoff. Die Happy Ends wirken etwas Nestroy'sch zurechtgebogen, im Buch werden sie nicht so deutlich. Aber vielleicht soll dies ja auch ein Abend für trostbedürftige, nicht mehr ganz junge, aber noch sehr lebendige Frauen sein, für „Best Ager“ sozusagen. Und um gleich noch einen Modeausdruck nachzuschieben: Dieses „Brainfood“, diese Hirnnahrung für Doderer-Fans ist nicht nur schmackhaft, sondern auch ästhetisch ansprechend angerichtet. Die Kostüme sind heuer in Reichenau besonders toll, hier stammen sie von Erika Navas. Nicht alle Besetzungen überzeugen: Die Bösen könnten böser und abgründiger sein. André Pohl spielt den Kammerrat Levielle, der Vermögen unterschlägt oder verspielt, vermutlich auch mit Währungen spekuliert. Thomas Kamper als Cornel Lasch, Ehemann von Grete Siebenscheins Schwester Titi, nützt seine Schlüsselposition in der Waffenbeschaffung zur eigenen Bereicherung. Doderer war unter anderem ein exzellenter Kenner und erfinderischer Analyst von Wirtschaft und Politik, diesfalls der wankenden Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der Monarchie.

Hermann Beil hat mit großem Gespür für Sprachmelodien und -färbungen, für Charakterisierung von Figuren durch ihre Sprache inszeniert. Die heurigen Aufführungen in Reichenau haben etwas von Hörspielen, sie tönen wundersam, manchmal spröde, und sie erfordern Aufmerksamkeit. Und natürlich tut man sich leichter, wenn man das Buch gelesen hat, was strapaziös, aber lohnend ist.

(Print-Ausgabe, 06.07.2016)

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