Seveso-Unfall: Verschwiegene Gefahren und verschwundene Giftfässer

Seveso-Unfall: Verschwiegene Gefahren und verschwundene Giftfässer
Seveso-Unfall: Verschwiegene Gefahren und verschwundene Giftfässer(c) imago/Leemage (imago stock&people)
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Vor 40 Jahren entwich aus einer Chemiefabrik im italienischen Seveso Dioxin. Der Unfall hatte weitreichende Folgen für Bevölkerung, Politik und Industrie.

„Es war absolut gespenstisch. Die Sonne stand hoch am Himmel, und du wusstest, um dich liegt Gift.“ Was Jörg Sambeth, technischer Direktor des Konzerns Givaudan, wenige Tage nach dem Unfall in der Chemiefabrik ICMESA im norditalienischen Seveso wusste, sollte die betroffene Bevölkerung erst viel später erfahren. Eine Gaswolke war am 10. Juli 1976 aus der Fabrik ausgetreten, die die Verbindung 2,3,7,8 Tetrachlordibenzo-p-Dioxin (TCDD) enthielt, eines der stärksten Gifte. Die Katastrophe von Seveso war der bis dahin schlimmste Chemieunfall in der Geschichte - mit weitreichenden Folgen für die Bevölkerung, die Umweltpolitik und die Chemieindustrie.

Der Unfall ereignet sich an einem Samstag. In der Fabrik läuft die Produktion von Trichlorphenol, einem Vorprodukt für das Desinfektionsmittel Hexachlorophen. Ein Arbeiter schaltet irrtümlich ein Rührwerk ab, woraufhin die Temperatur im Kessel zu hoch wird. Um 12.37 Uhr platzt ein Sicherheitsventil, der Inhalt des Kessels entlädt sich in die Luft außerhalb der Fabrik - ein Auffangreservoir gibt es nicht.

Zunächst verlieren Bäume ihre Blätter, dann sterben Tiere, dann zeigen sich bei den ersten Kindern Hautausschläge. Der Bevölkerung wird gesagt, sie solle kein Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten essen. Mehr wird zunächst nicht mitgeteilt. Das Wort „Dioxin“ fällt erstmals zehn Tage nach dem Unfall – fünf Tage, nachdem die Verantwortlichen herausgefunden hatten, dass das Gift in die Umwelt gelangt war.

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"Es wird nicht geredet"

Behörden und die Unternehmen verharmlosen und schlampen zunächst. Die Fabrik ICMESA gehört dem Konzern Givaudan, einer Tochter des Schweizer Chemiekonzerns Hoffman-La Roche. Sambeth erzählt in der Dokumentation „Gambit“ von einer Krisensitzung bei Roche fünf Tage nach dem Unfall: „Es wird nicht geredet“, soll damals befohlen worden sein – weder die Namen der beteiligten Konzerne noch das Wort „Dioxin“ sollte in den Mund genommen werden. Er habe sich zunächst daran gehalten, sagt Sambeth, und sein Schweigen erst gebrochen, als er zurück in Italien kranke Menschen und ratlose Ärzte sah.

Nach 16 Tagen ordnen die Behörden die Evakuierung der am schwersten betroffenen Zone an, 700 Menschen müssen ihre Häuser verlassen. 1800 Hektar Land sind verseucht. 78.000 Tiere werden notgeschlachtet. Hunderte Menschen erkranken an Chlorakne und Hautverätzungen, viele haben noch heute Narben. Direkte Todesfälle werden der Katastrophe nicht zugeordnet, allerdings stellten Ärzte in den folgenden Jahren ein erhöhtes Auftreten bestimmter Krebsarten fest. Noch 2008 weist ein Forscherteam aus Italien und den USA bei Babys in Seveto veränderte Schilddrüsenwerte nach.

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Juristische und politische Folgen

Sambeth wurde gemeinsam mit vier weiteren Mitarbeitern zu Bewährungsstrafen verurteilt, die Führungsebene von Roche blieb unbehelligt. Der Konzern zahlte rund 300 Millionen Franken Entschädigung an die Opfer und für die Beseitigung der Schäden. Letztere dauerte. Die Dekontaminations-Maßnahmen in der Kernzone begannen 1980. Zwei Jahre darauf verschwanden 41 Tonnen mit hochgiftigem Abfall. Roche hatte die Behälter der Firma Mannesmann Italia zur Entsorgung übergeben, die wiederum zwei Ein-Mann-Firmen beauftragte. Dann verschwanden die Fässer, in ganz Europa brach eine fieberhafte Suche aus. Erst in Beugehaft gab der Verantwortliche zu, die Fässer in einem Schuppen in einem Dorf in Frankreich abgestellt zu haben. Im Juni 1985 wurden sie in einem Schweizer Spezialofen verbrannt.

Für die Umweltpolitik bedeutete die Katastrophe von 1976 einen Wendepunkt. 1982 beschloss die EU die sogenannte Serveso-Richtlinie: Sie schreibt Industriebetrieben, die mit bestimmten Mengen an Gefahrenstoffen umgehen, vor, Risiken zu analysieren und abzustellen. Und auch das Verschwinden der Giftfässer hatte Konsequenzen: 1989 einigten sich 116 Staaten auf das Baseler Übereinkommen über die Kontrolle grenzüberschreitender Giftmülltransporte.

Um Seveso selbst ist es wieder ruhig geworden. Auf dem Standort der früheren Chemiefabrik steht heute ein Sportzentrum, aus dem verseuchten Gelände wurde ein Park.

Dioxin

Dioxine bzw. chemisch verwandte Stoffe gehören zu den giftigsten organischen Verbindungen. Akute Vergiftungen schädigen vor allem die Leber. Bei den Hautkomplikationen sind die langwierigen Entzündungen der Talgdrüsen (Chlorakne) bekannt. Dioxine können die Entstehung von Krebs fördern und Fehlbildungen verursachen. Dioxine können Männer und Frauen unfruchtbar machen und die Balance des Hormonhaushalts zerstören, Embryos und Neugeborene im Wachstum behindern und das Immunsystem empfindlich schwächen.

Über Nahrungsmittel, vor allem Fleisch, Milch und Fisch, können Dioxine in den menschlichen Körper gelangen, wo sie sich vor allem im Fettgewebe festsetzen. Der Körper braucht Jahre, um seine Dioxin-Belastung wieder zu reduzieren. Dioxin wurde ursprünglich in Herbiziden und Entlaubungsmitteln (etwa "Agent Orange" im Vietnam-Krieg) eingesetzt. Insgesamt sind rund 210 solcher chemischer Verbindungen bekannt, allen voran 2,3,7,8-TCDD (Tetrachlordibenzo-p-Dioxin).

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