Estlands Verteidigungsminister Hanso vergleicht die Sicherheitslage mit der Berlin-Blockade und wirft dem Kreml Revanchismus vor.
Die Nato beschließt hier auf dem Gipfel die Aufrüstung der Nato-Ostflanke. Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass Russland in Estland einfallen will?
Hannes Hanso: Das Verhalten Russlands bereitet uns große Sorgen. 2008 wurde im Georgien-Krieg ein souveräner Staat amputiert, mit dem Ziel, seine euroatlantische Integration (Nato-Beitritt, Anm.) zu verhindern. 2014 gab es die illegale Annexion der Krim, dann die Destabilisierung der Ostukraine. Russland glaubt, dass es in Entscheidungen souveräner Staaten eingreifen darf. Es verhält sich unberechenbar und benutzt militärische Mittel, um politische Zwecke zu erreichen.
Aber haben Sie irgendwelche Anzeichen, dass es auch für Estland Gefahr gibt?
Wir sehen zurzeit eine starke Aufrüstung hinter unserer Grenze und spontane Überprüfungen der Gefechtsbereitschaft, zu denen nie ausländische Beobachter zugelassen sind. Nein, wir glauben nicht, dass Russland in Estland einmarschiert. Aber die Gesamtlage macht es nötig, dass die Nato für eine glaubwürdige politische und militärische Abschreckung sorgt. Einen Stolperdraht sozusagen. Das ist eine legitime Antwort.
Was ist denn der Grund für Russlands Verhalten?
Russlands Elite versucht nicht mit guter Wirtschaftspolitik, sondern mit Revanchismus seine Bürger zu mobilisieren. Unglücklicherweise funktioniert das. Russlands Verhalten ist auf der Konfrontation mit dem Westen aufgebaut. Darauf müssen wir antworten.
Das neue Nato-Bataillon in Estland wird das Baltikum militärisch nicht schützen.
Während die Europäer ab Ende der Neunziger ihre Verteidigungsausgaben stark gekürzt haben, hat sie Russland massiv erhöht, vor allem in seinem westlichen Militärbezirk. Wir kehren mit den Bataillons nicht zu einem Wettrüsten wie im Kalten Krieg zurück. Wir werden nicht Panzer um Panzer, Kampfjet um Kampfjet in der Aufrüstung nachziehen. Es geht darum, dass Russland versteht, dass unsere Länder Nato-Territorium sind, Ähnlich war es in Westberlin während des Kalten Kriegs: Britische und amerikanische Truppen waren dort, militärisch natürlich in keinster Weise ebenbürtig, aber sie hatten eine Botschaft: „Wenn ihr uns berührt, dann steckt ihr weltweit in Problemen.“ Das ist auch die Botschaft jetzt.
Sie haben Georgien erwähnt, das derzeit erfolglos in die EU drängt. Verstehen Sie, dass sich Russland eingekreist fühlt?
Eingekreist von wem? Nein, ich verstehe diese Bedenken nicht. Warum wollen denn diese ganzen Länder Nato-Mitglieder werden? Das ist eine Antwort auf Russlands Verhalten.
Der deutsche Außenminister hat in Richtung Nato vor „Kriegsgeheul und Säbelrasseln“ gewarnt.
Deutschland ist ein sehr guter Partner. Es wird die Framework Nation des Bataillons in Litauen sein, hat derzeit eine Kompanie zu Manövern in Estland entsandt. Taten sagen mehr als Worte. Aber ich stimme mit Steinmeier nicht überein: Das Baltikum ist genauso Nato-Territorium wie Deutschland und Frankreich, es ist keine graue Zone. Wir müssen also auch dort üben, Manöver durchführen, sonst sind wir nicht glaubwürdig.
Es gibt Stimmen, die sagen, die wahre Herausforderung liegt im Süden des Bündnisses, nicht im Osten.
Wir können Russlands Verhalten nicht akzeptieren. Wenn das die neue Normalität wäre, dass größere Staaten einfach in kleinere einmarschieren können, was passiert dann in Südasien, in Afrika? Das ist eine fundamentale Angelegenheit. Aber natürlich haben wir auch mit Blick auf die Situation im Nahen Osten große Bedenken. Es darf also nicht sein, dass die Herausforderungen der Nato im Osten und im Süden gegeneinander ausgespielt werden.
Zur Person
Hannes Hanso (geb. 1971) ist seit September 2015 Estlands Verteidigungsminister. Der Sozialdemokrat studierte Jus und Sinologie, war außenpolitischer Radiokommentator und für den Europäischen Auswärtigen Dienst in Peking tätig. [ AFP ]