Japan, 30. August 2009: Godzilla ist umgefallen

Nach 54 Jahren fast permanenter Herrschaft wurde das Politmonster „Liberaldemokratische Partei“ abgewählt.

Erdbeben ist man in Japan, dessen Inseln ungünstigerweise auf einer aktiven geologischen Verwerfungszone liegen, an sich gewohnt. Die Schockwellen, die am Sonntag durch das hypertechnisierte Land mit seinen 128 Millionen Einwohnern jagten, waren dennoch von ungewöhnlicher Stärke: In der Wahl zum Unterhaus, der wichtigsten Kammer des japanischen Reichstages, beendeten die Wähler die 54-jährige Herrschaft der mächtigen Liberaldemokratischen Partei (LDP): Sie hatte seit 1955 regiert – unterbrochen nur durch einige Monate Opposition 1993/94.
Der Sieg, den die erst 1996 gegründete „Demokratische Partei“ unter ihrem strahlenden Chef Yukio Hatoyama über die alte LDP-Elite unter dem glücklosen, seit dem Vorjahr amtierenden Premier Taro Aso einfuhr, war total. Dabei ist die Liebe der Wähler zum steinreichen, auch schon 62-jährigen Hatoyama, der im Wahlkampf ernsthaft eine „Politik der Liebe“ propagierte, mehr Augenmerk auf den „kleinen Mann“ legen will und sich als eine Art Barack Obama gibt, eher halbherzig: Die Japaner hatten vor allem den machtverfilzten LDP-Godzilla satt und wagten eine Alternative.
Kotaro Kobayashi, ein 75-jähriger Tokioter, brachte es im Gespräch mit „Reuters“ auf den Punkt: „Ob die Demokraten gut oder schlecht sind, weiß ich nicht, aber jetzt will ich einfach einen Wechsel.“

Tatsächlich haben die Jahrzehnte an der Macht die LDP, die in einem Spinnwebgeflecht mit Bürokratie und Industrie verwoben ist, intellektuell wie charismatisch versteinert (ein Schelm, der Parallelen zu Österreich zu sehen glaubt). Sicher konnte die LDP aus dem kriegsversehrten Inselreich die zweitgrößte Wirtschaftsmacht machen, doch der Ruhm ist verblasst: Seit über 20 Jahren steckt Japan in einer mehr oder weniger starken Rezession, seine Menschen in der Sinnkrise.
Noch in den 80ern beteten viele Wirtschaftsauskenner im Westen die Mechanismen von Japans Wiederaufstieg – darunter extreme Disziplin, praktischen Verzicht auf Urlaub, Arbeit bis zum Umfallen – nach. Kritischeren Geistern, die überzeugt waren und sind, dass der Fortschritt und einer seiner Hauptmotoren, die Wirtschaft, für den Menschen da sein sollten und nicht umgekehrt, war das damals schon unheimlich.
Tatsächlich ist Japan heute Sinnbild einer wirtschaftlich-sozialen Stagnation, von Reformunwillen, Vergreisung und institutionalisiertem Burn-out inmitten einer schrillen Hightech- und Popkulturblase – und die LDP, die eine ausufernde Klientelpolitik vor allem hinsichtlich „ihrer“ Bauern und der Industrie betrieb, ein Klub von Sonnengöttern, denen das Leuchten verging.
Dazu stirbt Japan aus: Bis 2050 dürfte die Bevölkerung von 128 auf 93 Millionen sinken, während an eine offenere Einwanderungspolitik kaum einer denkt. Im Gegenteil: Südamerikanischen Gastarbeitern mit japanischen Wurzeln bietet die Regierung Geld, wenn sie zurück in ihre Herkunftsländer wie Peru gehen. Nur: Wirtschaftswachstum bei schwindender Bevölkerung ist so was wie die Quadratur des Kreises. Auch täuscht das Bild vom – dank gesunder Kost aus Fisch, Gemüse, Ingwer und Grüntee – uralt werdenden Japaner nicht: 2015 werden mehr als 25 Prozent der Japaner älter sein als 65, was Pensions- und Gesundheitskosten weiter wachsen lassen wird.

Politisch-kulturell spielte Japan zuletzt ebenfalls eine kleinere Rolle. Oder besitzen Sie etwa CDs mit Japan-Rock von wilden Bands wie „Buck-Tick“ oder „Dir en grey“? Vielleicht ist der CD-Player von Sony. Zwar wird der Diplomat Yukiya Amano bald neuer Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, aber sonst steht es um Tokios Repräsentanz in internationalen Organisationen nicht gut – und mit seinen Ambitionen auf einen ständigen Platz im UN-Sicherheitsrat watet Japan im Treibsand. Kleiner Trost: Brasilien, Deutschland und Indien stecken dort ebenfalls fest.
Hatoyama, der Demokrat, hat viel versprochen, etwa Bauern und Kleinfamilien stärker zu helfen und Japans Rolle aufzuwerten – was vor allem heißt, stärker, auch in militärischer Hinsicht, aus dem Kielwasser der USA zu steuern. Hatoyama, dessen Großvater Premier war (1954–56) und dessen Vater Außenminister, will auch die so verkrustete wie mächtige Bürokratie aufbrechen und ihrer Selbstgefälligkeit berauben – vor allem dafür hat man ihn gewählt.
Doch Strahlemännern blättert oft rasch der Lack ab. Ob Hatoyama, der selbst lange in der LDP war, „das System“ ausmisten kann, ist fraglich. Skandale, Filz, innerparteiliches Machtgerangel, Klientelpolitik und Unfähigkeit sind zähe Konstanten der Innenpolitik. Man weiß das als Österreicher.

wolfgang.greber@diepresse.com

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