Das Attentat von Nizza fügt sich in eine blutige islamistische Terrorserie. Der Feind kommt von innen, aus den Vorstädten.
Wieder Frankreich. Im Jänner 2015 die Anschläge auf die Pariser Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ und den jüdischen Supermarkt Hyper Casher, im November die Anschlagswelle auf die Konzerthalle Bataclan, Cafés und das Stade de France – und jetzt, nach der heil überstandenen Fußball-EM, just zum Nationalfeiertag, der Massenmord in Nizza: Mit einem weißen Lastwagen raste Mohammed Lahouaiej-Bouhlel in die Menschenmenge, die sich in dieser lauen Sommernacht an der Strandpromenade das Feuerwerk anschauen wollte. Der Terrorist mähte sie nieder, tötete mindestens 84 schreiende Passanten, darunter zehn Kinder. Unter den Opfern zahlreiche Touristen, zwei deutsche Maturantinnen und ihre Lehrerin, eine russische Studentin, ein Texaner und sein elfjähriger Sohn, ein Ukrainer, eine Armenierin, eine Schweizerin.
Warum dieser Hass? Warum wieder Frankreich? Die Attentäter der vergangenen Monate nahmen eine Lebensweise ins Visier, die ihnen aus ideologischen Gründen ein Dorn im Auge ist. Und der 14. Juli verkörpert diese verhassten westlichen Ideale: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Frankreich ist heute der Erzfeind der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), Spaltung und Polarisierung das Geschäft der Extremisten. Die Stimmung in Frankreich soll kippen, die fünf Millionen Muslime sollen entfremdet werden. So die krude Logik des Terrors.
Spätes Erbe des Kolonialismus
Die Zahl der Jihadisten ist in Frankreich besonders hoch, ein spätes Erbe des Kolonialismus. Die Vororte der Städte sind voll mit zornigen Söhnen nordafrikanischer Einwanderer. Hat sich Frankreich mit der Immigration selbst innere Feinde geschaffen? Seit Jahren streitet das Land über diese Frage. Premierminister Manuel Valls hat mehrfach geltend gemacht, die Banlieue-Problematik dürfe nicht als soziale Entschuldigung für die Radikalisierung einer Minderheit dieser Jugendlichen missbraucht werden.
Feindbild Frankreich: Mit seiner strikten Durchsetzung des Prinzips der Trennung von Religion und Staat erregt das Land seit Jahrzehnten Missfallen in der islamischen Welt. Das Kopftuch ist per Gesetz an Schulen verboten, ebenso wie die Totalverschleierung (Burka) in der Öffentlichkeit. Für Radikale ist das Grund genug, gegen den laizistischen Staat in den Krieg zu ziehen.
An vorderster Front gegen den IS
Und der Krieg tobt ja nicht nur im metaphorischen Sinn. Ausgerechnet am Tag des Attentats hat Präsident François Hollande angekündigt, den Kampf gegen den IS zu verstärken und Militärberater in den Nordirak zu entsenden, um die Stadt Mossul zu befreien. Das Attentat von Nizza wirkt da wie eine unmittelbare Strafaktion.
Das Phänomen Terror ist nicht neu in Frankreich. Seit mehr als 30 Jahren ist das Land damit konfrontiert. In den 1980er- und 1990er-Jahren standen die Anschläge und Geiselnahmen fast immer im Zusammenhang mit den Konflikten in Nahost. Doch damals ging es um klare Forderungen: die Rückerstattung eines iranischen Kredits aus der Zeit des Schahs, Frankreichs Rolle im Libanon oder in Algerien. Heute prallen zwei Weltbilder aufeinander, das westliche und das apokalyptisch-jihadistische. Und anders als in der ersten Periode des Terrors kommt der Feind nicht von außen, sondern ist meist in Frankreich aufgewachsen, samt unversöhnlichem Hass.
Kartei mit 13.000 Terrorverdächtigen
Die französischen Nachrichtendienste führen in ihrer Datenbank 13.000 Personen, die sie als radikal einschätzen. Fast 2000 Jihadisten sind in den Krieg nach Syrien und in den Irak gezogen. Sie könnten jederzeit nach Frankreich zurückkehren, um dort den Kampf mit terroristischen Mitteln fortzusetzen. Das macht die effiziente Zusammenarbeit der diversen Sicherheitsdienste erst recht wichtig.
Die Forderung nach einer besseren Koordination unter Leitung einer einzigen nationalen Antiterroragentur stand im Zentrum der Empfehlungen einer parlamentarischen Kommission, die Lehren aus früheren Attentaten ziehen wollte. Der Kommissionssprecher Georges Fenech bedauerte am Tag nach dem Anschlag von Nizza, dass die Regierung diese Ratschläge schubladisiert habe.
Liebe Leserinnen und Leser,
wir trauern um die Opfer in Nizza.
Hass, Hetze, einseitiges Pauschalisieren gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, Religionen oder Rassismus haben hier keinen Platz.
Gleiches gilt für Aufrufe zur Gewalt.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2016)