Virtuelle Rekonstruktionen

Mehrere Ausstellungen zeigen derzeit virtuelle Rekonstruktionen: Diese Art der Präsentation erfreut nicht nur die Besucher, sondern bringt auch die Wissenschaft voran.

Vor 80 Jahren gab es in Wien rund hundert Synagogen und jüdische Bethäuser. Die allermeisten wurden am 9. und 10. November 1938 schwer beschädigt und danach abgetragen. Nur fünf sind bis heute erhalten – abgesehen vom Stadttempel als Gedenkraum, als Turnsaal, Künstleratelier und Geschäftslokal –, von einer weiteren Handvoll sind kleine Reste übrig. Dennoch kann man derzeit zwei Dutzend der jüdischen Sakralbauten in einer Sonderausstellung im Jüdischen Museum am Judenplatz betreten – und zwar virtuell. Das ist das Werk der Architekten Bob Martens (TU Wien) und Herbert Peter, die seit 15 Jahren Rekonstruktionen im Computer auf Basis von zeitgenössischen Beschreibungen, Einreich- und Abrisspläne erarbeiten.

Szenenwechsel ins Südengland der Jungsteinzeit: Um die heutige Ortschaft Stonehenge herum entstand damals eine riesige rituelle Landschaft mit Steinkreisen, Grabhügeln und anderen kultischen Bauwerken. Die meisten sind heute aus der Landschaft verschwunden. Mit geophysikalischen Methoden lassen sich diese Strukturen aber wieder sichtbar machen – und diese Daten können zudem für dreidimensionale Rekonstruktionen genutzt werden. Die Ergebnisse sind derzeit in einer vom virtuellen Archäologen Wolfgang Neubauer kuratierten Sonderausstellung im Urgeschichtemuseum in Mistelbach zu bestaunen.

Und noch etwas ganz anderes: Zu einem wahren Renner im Internet hat sich in jüngster Zeit das von der Umwelthistorikerin Verena Winiwarter geleitete Projekt Environmental History of the Viennese Danube 1500–1890 entwickelt. In YouTube-Videos (Suchbegriff: Danube River historical change) kann man die historische Entwicklung der Mäander und Auwälder um Wien in den vergangenen 500 Jahren im Zeitraffer erleben – und sogar virtuell über die seinerzeitigen Donauauen fliegen.

Diese drei Rekonstruktionen – die hier beispielhaft für viele ähnliche Projekte stehen – faszinieren nicht nur angesichts der gezeigten Erkenntnisse und ihrer optischen Raffinesse. Sie illustrieren überdies, wie sich die Wissenschaft und die Darstellung ihrer Ergebnisse verändert haben: Aus den früheren abstrakten Schwarz-Weiß-Zeichnungen in wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind dank Computertechnik bunte und eingängige Darstellungen geworden – für die freilich wesentlich mehr Informationen notwendig sind und verknüpft werden müssen. Das Ergebnis erfreut daher nicht nur den interessierten Laien, sondern bringt auch für die Wissenschaft große Erkenntnisfortschritte.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

(Print-Ausgabe, 17.07.2016)

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