Der Täter von Nizza war psychisch krank

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Noch immer wirft das Profil des Attentäters von Nizza zahlreiche Fragen auf. Hat sich Mohammed Lahouaiej Bouhlel innerhalb von Wochen radikalisiert?

Paris. „Ein Irrer oder ein Irrer Gottes?“, so fasst in einem Titel die Sonntagszeitung „Journal du Dimanche“ das Rätselraten um den Täter von Nizza zusammen. Das persönliche Profil des 31-jährigen Tunesiers Mohammed Lahouaiej Bouhlel ist seit drei Tagen durch die Befragung von Angehörigen, Bekannten und ehemaligen Nachbarn ausgeleuchtet worden, ohne dass deswegen seine Beweggründe, die er anscheinend mit ins Grab nehmen wollte, etwas klarer geworden wären. Bisher scheinen trotz der fieberhaften Suche der Untersuchungsbehörden und mehrerer polizeilicher Durchsuchungen und Festnahmen eindeutige Hinweise auf ein klares Motiv zu fehlen. Die Behörden stehen unter einem enormen Erfolgsdruck. Die Bevölkerung will wissen, weshalb an der Promenade des Anglais 84 Menschen sterben mussten und mehr als 50 weitere schwer verletzt wurden, als Bouhlel mit einem gemieteten Lastwagen mutwillig in die für ein Feuerwerk zum Nationalfeiertag versammelte Menge gerast ist.

Seine ehemalige Frau, von der Bouhlel getrennt lebte, war vorübergehend festgenommen worden. Nach einer eingehenden Befragung ist sie am Sonntag aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden. Auch sieben Leute aus dem Bekanntenkreis werden weiterhin in Polizeihaft (vorerst als Zeugen) verhört. Bei einem dieser Bekannten hat die Polizei zwar 200 Gramm Kokain gefunden, viel Bargeld und elf Mobiltelefone, was aber eher Aktivitäten eines Dealers als einen terroristischen Hintergrund vermuten lässt. Die Rede ist auch von einer SMS, die möglicherweise auf einen eingeweihten Komplizen hindeuten könne. Zu den Inhaftierten gehören eine Frau und ein Mann aus Albanien. Sie werden verdächtigt, dem Täter „logistische Hilfe“ geleistet zu haben.

Aus Polizeikreisen verlautet zudem, Bouhlel habe seit etwa zwei Wochen keine alkoholischen Getränke mehr konsumiert und das mit einer Hinwende zur Religion erklärt. Das wiederum steht im Widerspruch zu Äußerungen aus seinem Freundeskreis und auch seines Vaters, wonach Bouhlel sich zuvor nie für den Islam interessiert habe. Auf jeden Fall entspricht Bouhlels Werdegang nicht dem üblichen Profil der bisher in Frankreich bekannten Terroristen. Wenn überhaupt, so muss er sich innerhalb von Wochen radikalisiert haben.

Der in Tunesien lebende Vater hat den Medien zusätzliche Einzelheiten geliefert. Seine Sohn habe vor mehr als zehn Jahren immer wieder Wutanfälle gehabt: „Er schrie und schlug alles zusammen.“ Der tunesische Arzt, der ihn damals 2004 in Sousse ein einziges Mal untersucht hat, spricht von „Charakter- und Verhaltensstörungen“, die auf den Beginn einer Psychose hingedeutet hätten. Er habe ihm deshalb ein Neuroleptikum, Haloperidol, verschrieben, das gewöhnlich in der Therapie chronisch schizophrener Symptome verwendet wird. Es entziehe sich aber seiner Kenntnis, ob Bouhlel die Arznei danach wie empfohlen eingenommen habe. Als Mediziner vermutet er zum Attentat von Nizza: „Selbst im Fall einer Psychose braucht es irgendeine Indoktrinierung für einen Hemmungsverlust und eine derart grausame Tat.“ Es steht aber fest, dass es sich um eine seit mindestens zehn Tagen vorbereitete Aktion handelt.

Opposition fordert Konsequenzen

Der Anschlag von Nizza wird zweifellos politische Folgen haben. Der Ruf nach einem harten Durchgreifen kommt unüberhörbar in den Reaktionen der Regierungsgegner zum Ausdruck. Ex-Präsident Nicolas Sarkozy erklärte in Nizza: „Es kommt der Zeitpunkt, an dem man sagen muss, dass man die Dinge nicht nur aussprechen, sondern auch machen muss.“ Weiterführende politische Konsequenzen fordert der Front National (FN). Dessen Sprecherin in Südfrankreich, Marion Maréchal-Le Pen, sagte: „Alle wussten, dass Nizza ein islamistisches Pulverfass ist.“ Sie will „radikale Maßnahmen für den radikalen Islam“: die Schließung der Grenzen, eine totale Revision der Strafvollzugspolitik und der Einbürgerungsgesetze.

AUF EINEN BLICK

Die Opfer. Bei dem Anschlag auf der Strandpromenade von Nizza wurden Freitagnacht 84 Menschen getötet, darunter auch zehn Kinder und Jugendliche. Am Sonntag schwebten noch 18 der Schwerverletzten in Lebensgefahr, darunter ebenfalls ein Kind. Einen Hinweis auf österreichische Opfer gibt es nach Angaben des Außenministeriums in Wien nicht.

Der Täter. Die Ermittler tappen bei den Motiven des Täters, Mohammed Lahouaiej Bouhlel, nach wie vor im Dunklen. Bereits am Samstag hat sich der IS zur Tat bekannt. Der Attentäter habe auf Aufrufe der Jihadistenmiliz reagiert.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2016)

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