Die Nationalisten wollen mit der AKP für die Todesstrafe stimmen. Das wäre das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen und vielleicht der Beginn einer neuen Flüchtlingskrise.
Sogar rückwirkend könnte sie angewandt werden. Die Türkei könnte schon bald wieder die Todesstrafe einführen. Denn die Opposition hat den Weg für eine Wiedereinführung der Todesstrafe freigemacht. Der Chef der nationalistisch gesinnten MHP, Devlet Bahceli, sagte am Dienstag in Ankara, dass seine Partei eine Verfassungsänderung ermöglichen werde. Die EU-Beitrittsgespräche wären in diesem Fall automatisch beendet, sagte Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ). Die EU stellte sich auch auf ein Scheitern des Flüchtlingsdeals ein.
"Wenn die AKP bereit ist, die Todesstrafe einzuführen, ist auch die MHP bereit", sagte MHP-Chef Bahceli. Die islamische Regierungspartei AKP benötigt die Stimmen von zumindest einer Oppositionspartei für die erforderliche Verfassungsänderung zur Wiedereinführung der Todesstrafe. Die kemalistische CHP und die pro-kurdische HDP haben sich gegen die Todesstrafe positioniert, auch Ministerpräsident Binali Yildirim warnte vor voreiligen Beschlüssen.
Erdogan hatte am Wochenende gesagt, die Forderung des Volkes nach der Todesstrafe dürfte nicht ignoriert werden. Der Präsident gibt die Stimme des Volkes in einem ersten Interview seit dem Aufstand so wieder: "Warum sollte ich sie jahrelang im Gefängnis halten und füttern? - das sagen die Leute." Die Türkei hatte die Todesstrafe im Jahr 2004 abgeschafft, als Voraussetzung für den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen.
"K.O.-Kriterium"
EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn bezeichnete die Wiedereinführung der Todesstrafe am Dienstag als "K.O.-Kriterium" für einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. In einer Sondersitzung des außenpolitischen Ausschusses des EU-Parlaments zur Türkei sagte Hahn am Dienstag in Brüssel, die Todesstrafe "ist praktisch ein Ausschließungsgrund". Ein Kommissionssprecher präzisierte daraufhin, dass die Todesstrafe auch inkompatibel mit dem Status eines EU-Kandidatenlandes sei.
Bundeskanzler Kern machte klar, dass die Beitrittsgespräche nach einem türkischen Todesstrafen-Beschluss automatisch abgebrochen werden. "Wenn die Todesstrafe eingeführt wird, dann stellt man sich außerhalb des Wertekonsenses, und dann ist zwingend das Ende dieser Verhandlungen eingetreten", sagte er am Montagabend im TV-Sender "Puls 4". Ähnlich äußerte sich ÖVP-Europaabgeordneter Othmar Karas. Die Wiedereinführung der Todesstrafe komme einem "Verhandlungsabbruch" durch Ankara gleich, sagte er am Dienstag.
Atib gegen Todesstrafe
Auch UNO-Menschenrechtskommissar Zeid Raad Al-Hussein warnte Ankara vor diesem Schritt. "Ich bitte die türkische Regierung dringend, bei der Verteidigung der Menschenrechte die Uhr nicht zurückzustellen", sagte er in Genf. Er wies darauf hin, dass die Türkei das Zweite Zusatzprotokoll des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert habe, das auf die weltweite Abschaffung der Todesstrafe abzielt. Nach Völkerrecht darf sich kein Staat von diesem Protokoll verabschieden. Klar gegen die Todesstrafe positionierte sich auch der Dachverband der türkischen Moscheen in Österreich, Atib. Dies sei "völlig inakzeptabel", sagte Atib-Vorstandsmitglied Metin Akyürek am Dienstag im Ö1-Morgenjournal.
Unterdessen wuchs in der Europäischen Union auch die Sorge vor einem Scheitern des Flüchtlingsdeals mit der Türkei. Ein Kommissionssprecher wollte nicht auf die Frage eingehen, ob die Wiedereinführung der Todesstrafe auch den Deal zur Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei hinfällig mache. Bundeskanzler Kern sagte, es gelte auch beim Flüchtlingsdeal "abzuwägen, ob die Türkei noch ein Partner" bleibt, doch seien hier "andere Maßstäbe anzulegen" als bei den Beitrittsgesprächen.
Griechenland stellt sich auf mehr Flüchtlinge ein
Der griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas sagte, dass sich Athen auf einen Anstieg der Flüchtlingszahlen einstelle. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Vorfälle in der Türkei auch Auswirkungen auf die Flüchtlingssituation haben", sagte Mouzalas einem Bericht des griechischen Fernsehsenders Skai zufolge am Montagabend im Athener Parlament. Hahn bezeichnete es als "fatal, wenn aus der Türkei plötzlich ein Flüchtlingsstrom aufgrund der aktuellen Situation entstünde".
Die türkische Armee teilte unterdessen mit, dass die Eliminierung der Putschisten abgeschlossen sei. Man werde sie nun "auf härteste Weise" bestrafen. Ähnlich äußerte sich Ministerpräsident Yildirim. Zugleich wandte er sich zu "Rachegefühlen" gegenüber den Putschisten. "Dies ist inakzeptabel in einem Rechtsstaat", sagte er. Regierungsangaben zufolge wurden 7500 Verdächtige verhaftet, darunter auch 26 Generäle, zahlreiche Militärs, Staatsanwälte, Richter und Polizisten. Insgesamt sind fast 20.000 Staatsbedienstete von Suspendierungen oder Festnahmen betroffen. Am Dienstag wurde die Suspendierung von Hunderten weiteren Beamten mitgeteilt, darunter von 257 von 2600 Mitarbeitern der Regierungskanzlei.
Botschafter bestätigt: Namen waren "bekannt"
Hahn sagte dazu, es sei "jenseits aller möglichen Vorstellungskraft", dass dieses Vorgehen nicht schon seit längerem vorbereitet gewesen wäre. Für seine Aussage, es habe Listen mit den zu Verhaftenden gegeben, war Hahn am Montag vom türkischen Außenminister Mevlut Cavusoglu scharf kritisiert worden. Allerdings bestätigte auch der türkische Botschafter in Wien, Hasan Gögüs, dass die Namen "bekannt" gewesen seien.
Yildirim bekräftigte neuerlich, dass die hinter dem Putsch vermutete Bewegung des Predigers Fethullah Gülen "bei den Wurzeln" gepackt werde. Ankara habe Washington auch schon Beweise übermittelt, die eine Auslieferung Gülens ermöglichen sollen. "Wir werden ihnen mehr Beweise vorlegen als sie haben wollen", sagte Yildirim. Gülen sagte in seinem Anwesen in Saylorsburg im US-Staat Pennsylvania, er rechne nicht mit einer Auslieferung. Schon im Jahr 2013 sei ein Auslieferungsbegehren gescheitert. US-Staatssekretär Thomas Shannon sagte in einem Interview mit derstandard.at, die Entscheidung in diesem Fall werde "durch US-Gerichte gefällt werden".
(APA/dpa/Reuters/AFP)