Wie der gescheiterte Coup die türkischen Parteien einte

Abgeordnete besichtigen die Schäden im Parlament, das in der Putschnacht bombardiert wurde. Das Gebäude hatte der österreichische Architekt Holzmeister entworfen.
Abgeordnete besichtigen die Schäden im Parlament, das in der Putschnacht bombardiert wurde. Das Gebäude hatte der österreichische Architekt Holzmeister entworfen.(c) REUTERS (UMIT BEKTAS)
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Der gescheiterte Coup hat alle Parteien geeint. Aber der Frieden wird wohl nur von kurzer Dauer sein. Premier Yıldırım will gegen die Selbstjustiz vorgehen.

Wien/Ankara. Der gescheiterte Putschversuch in der Türkei am Wochenende hat nicht nur das Land in eine Schockstarre versetzt, sondern auch eine kaum gekannte politische Einigkeit hervorgerufen. „Wir verurteilen den Putschversuch“, heißt es etwa in der gemeinsamen Erklärung aller im Parlament vertretenen Parteien. Und weiter: „Die Täter dieses Angriffes auf die Nationalversammlung, die Nation und auf nationale Souveränität werden einen hohen Preis zahlen.“ Gegenseitige Solidaritätsbekundungen der Parteien fanden am Dienstag ihre Fortsetzung: Regierungschef Binali Yıldırım trat gemeinsam mit dem Chef der oppositionellen, sozialdemokratischen CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, vor die Medien.

„Die Gesellschaft hat ein tiefes Trauma erlitten“, sagte Kılıçdaroğlu, und betonte, dass man nur gemeinsam die Angst des Volkes bekämpfen könne. Derweil wies Yıldırım einmal mehr darauf hin, dass man die „Provokateure“ – die Putschisten – ausmachen und vor Gericht stellen werde. Der Premier verurteilte auch jene Bilder, die nach der fraglichen Nacht massenhaft in den sozialen Medien geteilt wurden: Anrainer, die Soldaten verletzten oder gar töteten, und sich anschließend mit den blutigen Körpern fotografieren ließen. Scharfe Worte gegen die plötzliche Welle der Selbstjustiz fand Kılıçdaroğlu schon kurz nach den Ereignissen, nun sagte Yıldırım mit Blick auf den Rachedurst vieler Bürger: „Ein Rechtsstaat kann so etwas niemals gutheißen.“ Die Verantwortlichen würden ausgemacht und der Justiz übergeben, so der Regierungschef.

Zur politischen Tagesordnung ist unterdessen die linke, prokurdische Partei HDP übergegangen, die den Putsch ebenfalls scharf verurteilt, aber auch vor den Folgen warnt. Parteichef Selahattin Demirtaş sieht einen „zivilen Putsch“ seitens der AKP aufkommen, der mit den massenhaften Verhaftungen und Entlassungen von Staatsbediensteten bereits sichtbar sei. Allein die repressive Politik gegenüber den Kurden, folglich die gewaltsamen Auseinandersetzungen hätten einen derartigen Putschversuch erst möglich gemacht, sagte Demirtaş – und forderte die Einführung einer zivilen Kontrolle des Verteidigungsministeriums, das gänzlich autonom agieren könne.

Die Bevölkerung nimmt die demonstrierte Einigkeit der Parteien wohlwollend auf: In den sozialen Medien teilen die User ein Bild, das die Vertreter der Parteien sowie einen Imam kurz nach den Ereignissen an einem Tisch zeigt, vertieft in ein Gespräch. Von Dauer dürfte der politische Frieden freilich nicht sein, da kann sich noch so ein großer Teil der Bevölkerung gegen den Putsch stellen. Bei der Frage nach der Todesstrafe scheiden sich die Parteigeister (siehe Artikel unten), auch der Aufruf des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die Straßen zu besetzen, stößt bisweilen auf Ablehnung. Den Säkularen ist zudem sauer aufgestoßen, dass in der Putschnacht die Muezzins stundenlang Gebete ertönen ließen.

Antrag auf Auslieferung geschickt

Als Drahtzieher des Putsches haben sowohl die AKP-Regierung als auch das Militär und Teile der Opposition die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen ausgemacht. Mit Gülen verband Erdoğan einst eine Zweckgemeinschaft für seinen politischen Aufstieg, doch seit dem Bruch vor drei Jahren fährt der Präsident alle Geschütze gegen die Bewegung auf. Der Prediger, der eine Beteiligung am Putsch abstreitet, lebt seit knapp zwei Jahrzehnten im US-amerikanischen Exil, und seine Auslieferung wünscht sich Ankara nicht erst seit gestern. Seit Dienstag jedoch steht fest: Der offizielle Auslieferungsantrag ist nach Washington geschickt worden. Mit konkreten Beweisen, wie es heißt, denn genau die hatte US-Außenminister John Kerry gefordert. Im Gespräch mit CNN sagte Erdoğan, dass Ankara bisher jeden ausgeliefert habe, den die USA als Terroristen einstufte. Er erwarte nun dasselbe.

15.000 Mitarbeiter suspendiert

Unterdessen haben die Behörden am Dienstag die Verhöre der verhafteten Soldaten fortgesetzt, allein in Istanbul waren es über 430. In einer offiziellen Stellungnahme voller scharfer Verurteilungen gibt die Armeeführung an, dass die Mehrheit der Militärangehörigen mit dem Putschversuch nichts zu tun habe. Der Geheimdienst habe die Generäle am Freitag bereits um 16 Uhr in Kenntnis gesetzt. Nun gab General Akın Öztürk, der als Organisator des Putsches gilt, bei seinem Verhör an: „Ich bin nicht derjenige, der einen militärischen Coup geplant hat.“ Er sei von den Ereignissen selbst überrascht worden und habe versucht, die zwei verantwortlichen Generäle zu stoppen.

Unklar bleibt auch, was mit jenen acht Militärangehörigen passiert, die sich in der Putschnacht nach Griechenland abgesetzt und dort offenbar politisches Asyl beantragt haben. Am Donnerstag findet vor dem Gericht in Alexandroupoli eine Anhörung statt, Athen will eine mögliche Auslieferung prüfen. Verschollen sind zudem seit dem Wochenende auch mehrere Kriegsschiffe samt Besatzung. Ein Zusammenhang mit dem Putschversuch wird geprüft.

Die von Erdoğan angekündigte „Säuberungswelle“ haben die Behörden auch am Dienstag fortgesetzt. Medienberichten zufolge sind über 15.000 Mitarbeiter des Bildungsministeriums suspendiert worden, zuvor traf es mehrere Tausend im Innen- und Verteidigungsministerium. Den Betroffenen wird eine Nähe zu Gülen nachgesagt, Beobachter monieren aber, dass sämtliche Erdoğan-Kritiker nun unter dem Vorwurf des Gülen-Terrorismus aus dem Weg geräumt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2016)

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