Erdoğan verhängt den Ausnahmezustand

Turkish President Tayyip Erdogan speaks during a news conference at the Presidential Palace in Ankara
Turkish President Tayyip Erdogan speaks during a news conference at the Presidential Palace in AnkaraREUTERS
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Die Regierung setzt nach dem Putschversuch die Entlassungs- und Verhaftungswelle fort, zudem dürfen Tausende Akademiker und Lehrer das Land vorübergehend nicht verlassen. Der Ausnahmezustand soll drei Monate gelten.

Wien/Ankara. Ein Land wird arbeitslos. Nach dem Putschversuch in der Türkei greift die AKP-Regierung weiterhin rigoros durch und entfernt massenhaft Angestellte, denen vorgeworfen wird, der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen anzugehören. Gülen, der im US-amerikanischen Exil lebt, soll hinter dem gescheiterten Putsch stehen, und so begründet Ankara auch die „Säuberungswelle“ im Staatsapparat.

Seit dem Wochenende ließ die Regierung 50.000 Mitarbeiter des Justiz- und Innenministeriums, der Polizei und auch Mitglieder der Zivilgesellschaft entlassen oder festnehmen. Am Mittwoch kamen 262 Richter und Ankläger des Militärgerichts sowie 900 Polizisten in Ankara hinzu. Vier Rektoren angesehener Universitäten sind suspendiert worden, weitere 95 Uni-Mitarbeiter allein in Istanbul. Einen Tag zuvor haben die Hochschulen 1577 Dekane vor die Tür gesetzt. Hunderte Bildungsinstitutionen sollen zugesperrt werden. Um zu vermeiden, dass sich Regierungsgegner oder Putschisten ins Ausland absetzen, hat die Türkei einen vorübergehenden Ausreisestopp für Uni-Mitarbeiter verhängt. Betroffen sind aber auch Pflichtschullehrer.

Nun sorgt neben den Entlassungen und Verhaftungen die rasante Geschwindigkeit der „Säuberungen“ für massive Kritik. Namen von Zehntausenden Regimekritikern und Oppositionellen müssen bereits zuvor für einen derartigen Fall gesammelt worden sein, heißt es – und auch, dass der AKP-Feldzug über die Gülen-Bewegung hinausgehe. Medien, die dem Netzwerk des Predigers nahestehen, sind bereits verboten worden, aber auch unabhängige Publikationen bekommen den Druck zu spüren. Die Polizei stoppte jüngst die Auslieferung von „Leman“, einer Satirezeitschrift, die den Putschversuch humoristisch wiedergibt.

Die Installierung von weiteren regimetreuen Mitarbeitern im Staatsapparat dürfte der nächste Schritt sein, und damit ist dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ein Machtzuwachs sicher. Für Fuat Avni, einem anonymen Whistleblower, der auf Twitter regelmäßig Regierungsinterna ausplaudert, ist die Allmacht des Präsidenten ausgemachte Sache: Er werde demnächst die Verfassungsänderung durchsetzen, die ihm weitreichenden Einfluss sichert. Für die Änderung braucht es ein Referendum, bisher scheiterte Erdoğan daran.

Fingiertes Attentat

Die Identität Avnis ist sowohl für die Öffentlichkeit als auch für die Regierung ein großes Rätsel, zumal er detailreiche Informationen weitergibt. Jüngst nahmen Beamte zehn technische Mitarbeiter des Kanzleramtes fest, Dienstagabend hieß es gar, Avni sei gefasst worden. Doch der Whistleblower meldete sich am Mittwoch mit aufsehenerregenden Tweets: Die Regierung plane, Nato-treue Generäle aus dem Weg zu räumen. Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe würden die EU-Beitrittsverhandlungen zu einem Ende kommen. Zudem soll ein fingiertes Attentat auf einen hochrangigen Politiker durchgeführt werden, damit die Regierung ihre Maßnahmen unter dem Vorwand der Sicherheit fortführen könne. Teile der Bevölkerung scheinen die Sicherheitskräfte jedoch nicht im Griff zu haben. Am Mittwoch hat eine aufgebrachte Menge einen Buchladen in der Stadt Malatya gestürmt und verwüstet, wie Videoaufnahmen zeigen. Schon in der Putschnacht hatte Erdoğan die Bürger dazu aufgerufen, die Straßen zu besetzen.

Nach einer Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrates und des Kabinetts in Ankara verfügte gestern Abend die türkische Regierung den Ausnahmezustand im Land. Er werde drei Monate lang gelten, erklärte Erdoğan. Damit dürfte sich die Regierung noch mehr internationale Kritik einhandeln. Überhaupt weichen die Solidaritätsbekundungen und die Verurteilung des Putschversuchs einer grundlegenden Kritik an Erdoğans Politik. So haben der EUA, der größte Verband europäischer Universitäten, sowie Amnesty International die Entlassung von Hochschulmitarbeitern scharf kritisiert. Ebenso zeigt sich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in „großer Sorge“. Der Flüchtlingsdeal mit Ankara sei derzeit aber nicht in Gefahr: „Ich habe bisher keinerlei Anzeichen, dass die Türkei nicht zu den Verpflichtungen steht.“

Klandestine Treffen

Unterdessen gelangen immer mehr Details von der Putschnacht an die Öffentlichkeit. Türkische Medien haben das Protokoll der Vernehmung von Levent Türkkan veröffentlicht, der genau das wiedergibt, was die Regierung in Ankara über den Putsch bekannt gab. Türkkan war bis zu seiner Festnahme Adjutant von Generalstabschef Hulusi Akar, der von den Putschisten kurzzeitig gefangen genommen wurde.

Türkkan gab also an, der Gülen-Bewegung anzugehören, „wie ein Großteil der Offiziere, die ab den 1990er-Jahren in die Armee eingetreten sind“. Während seiner Zeit in der Armee habe er für die Bewegung Generäle ausgehorcht und an klandestinen Treffen teilgenommen. Vom Putsch selbst habe er einen Tag vorher erfahren, und weil so viele Zivilisten gestorben sind, bereue er nun seine Teilnahme. Erdoğan selbst sollte nach dem Coup angeklagt werden, heißt es in Medienberichten – und zwar wegen der Gespräche mit der verbotenen kurdischen PKK. Damals war der Friedensprozess noch im Gange, vor einem Jahr jedoch ist der Konflikt wieder voll entbrannt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2016)

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