Ist die Türkei noch ein sicheres Drittland?

Ein Flüchtlingslager in der Türkei.
Ein Flüchtlingslager in der Türkei.REUTERS
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Die Verhängung des Ausnahmezustands ist kein Grund, den Flüchtlingspakt mit Ankara zu suspendieren. Doch die zugesagte Visumfreiheit wackelt.

Brüssel. Es ist das Herzstück des Plans zur Bewältigung der Flüchtlingskrise, den die EU im Lauf der vergangenen Monate geschmiedet hat – die Rede ist vom Abkommen mit der Türkei, das Anfang März vereinbart wurde. Ziel des Aktionsplans ist die drastische Verringerung der Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die aus der Türkei auf die griechischen Ägäis-Inseln übersetzen, um in der EU um Asyl anzusuchen. Von den 1,8 Millionen illegalen Grenzübertritte im vergangenen Jahr wurden rund zwei Drittel entlang der griechischen EU-Außengrenze gezählt.

Dreh- und Angelpunkt ist die Rücksendung aller Neuankömmlinge aus Griechenland in die Türkei – damit sollen jene, die sich nicht in Gefahr befinden und auf ein besseres Leben in Europa hoffen, von der Überfahrt abgeschreckt werden. Schon bisher war dies alles andere als einfach. Die Tatsache, dass sich die Zahl der Flüchtlinge und Migranten in Griechenland bis dato minimal verringert hat – vor dem Inkrafttreten des Abkommens waren es rund 50.000, derzeit sind es geschätzte 42.000 –, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die griechischen Asylbehörden an ihren Kapazitätsgrenzen operieren. Durch die jüngsten Ereignisse in der Türkei wird die gesamte Operation zusätzlich erschwert. Denn der Aktionsplan setzt voraus, dass die Türkei als sogenannter sicherer Drittstaat gilt – also sicher genug ist, um Flüchtlinge dorthin zurückzuschicken. Griechenland war diesbezüglich lang skeptisch, doch hat es seine Gesetze im Frühjahr angepasst, um die Türkei de facto als sicheren Drittstaat zu behandeln – auch ohne offizielles Gütesiegel.

Die zeitweilige Aussetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die von der Regierung in Ankara angekündigt wurde (siehe Seite 1), sowie Überlegungen zur Einführung der Todesstrafe könnten dieses positive Urteil nun ins Wanken bringen. Auf der Kippe steht der Pakt deswegen allerdings noch lang nicht. Die Einstufung als sicherer Drittstaat basiere nämlich nicht auf der generellen demokratiepolitischen Entwicklung in einem Land, sondern lediglich darauf, ob der Umgang mit Flüchtlingen rechtlich geregelt sei und sie dort Schutz genießen, erklärt Menschenrechtsanwalt Orcun Ulusoy von der Freien Universität Amsterdam. Soll heißen: Die Frage, ob die Türkei ein sicherer Drittstaat ist oder nicht, stellt sich erst dann, wenn anhand von Einzelfällen nachgewiesen werden kann, dass der Umgang der Behörden mit Flüchtlingen rechtsstaatlichen Normen widerspricht. Ulusoy selbst stellt der Türkei ein negatives Zeugnis aus – doch seine Bewertung beruht auf der unzulänglichen Umsetzung des Gesetzes zum Internationalen Schutz und auf Engpässen bei Gerichten und Asylbehörden, und nicht auf dem Vorgehen der Regierung seit dem gescheiterten Putsch. Eine ähnliche Sicht der Dinge herrscht in Brüssel vor. „Die Verhängung des Ausnahmezustands ist in der türkischen Verfassung vorgesehen, außerdem haben auch wir Erfahrungen damit“, hieß es hinter vorgehaltener Hand aus EU-Kreisen – eine Anspielung auf den soeben verlängerten Ausnahmezustand in Frankreich. Zunächst einmal müsse abgewartet werden, welche Auswirkungen die Nachbeben des Putschversuchs auf den Rechtsstaat haben.

Absetzbewegung nach Europa

Akuter gefährdet ist der Aktionsplan an einer anderen Front: bei der Reisefreiheit für türkische Staatsbürger. Staatschef Recep Tayyip Erdoğan machte die Visumliberalisierung zur Grundvoraussetzung für seine Kooperationsbereitschaft in der Flüchtlingsfrage und drohte wiederholt damit, Migranten an die EU-Außengrenzen zu schicken, sollte die EU ihre Zusage nicht einhalten. Rein formal ist die Visumfreiheit an die Umsetzung eines 72 Punkte umfassenden Maßnahmenkatalogs durch die Türkei gebunden – mehrere Punkte hat Ankara noch nicht erfüllt, weshalb sich die ursprünglich für Juni avisierte Aufhebung der Visumpflicht nach hinten verschoben hat.

Die Krux: Die Mitgliedstaaten wollen der Visumliberalisierung nur zustimmen, wenn sie nicht dazu führt, dass verstärkt Türken in Europa um Asyl ansuchen. Erst im Mai hat die EU-Kommission einen Entwurf zur Novellierung der Vorschriften zur Visumliberalisierung vorgelegt: Die Neufassung sieht nun vor, dass EU-Mitglieder die Visumpflicht bereits nach acht Wochen wieder einführen können, wenn es zu einem „substanziellen Anstieg“ der Asylanträge von Drittstaatsangehörigen kommt, deren Anerkennungsrate bis dato niedrig war – ein Kriterium, das auf die Türkei zutrifft. Angesichts der Tatsache, dass die Regierung in Ankara eine regelrechte Hexenjagd auf vermeintliche Staatsfeinde gestartet und Akademikern die Ausreise verboten hat, ist zu erwarten, dass viele Türken die Aufhebung der Visumpflicht nützen werden, um sich nach Europa abzusetzen – und dass türkische Asylanträge jetzt anders behandelt werden müssten als bisher.

AUF EINEN BLICK

Sicherer Drittstaat. Die Nachbeben des Putschversuchs haben vordergründig keinen Einfluss darauf, ob die EU Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückschicken kann bzw. darf – das Kernelement des am 20. März in Kraft getretenen Aktionsplans EU/Türkei wäre erst dann in Gefahr, wenn anhand von Einzelfällen nachgewiesen werden kann, dass der Umgang der türkischen Behörden mit Flüchtlingen rechtsstaatlichen Normen widerspricht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2016)

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