Der heuchlerische Kampf des einstigen Hoffnungsträgers Erdoğan

Turkish President Tayyip Erdogan speaks during a news conference at the Presidential Palace in Ankara
Turkish President Tayyip Erdogan speaks during a news conference at the Presidential Palace in Ankara(c) REUTERS (UMIT BEKTAS)
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Die AKP-Regierung bemüht als Rechtfertigung für ihre rigiden Kollektivmaßnahmen das Feindbild Gülen. Dabei hat sie selbst diese Gruppe groß gemacht.

Er wurde als Modernisierer gefeiert; als mutiger Politiker, der die Türkei mit demokratischen Reformen näher an die EU herangeführt hat. Unter seiner Führung nahm die Wirtschaft des Landes einen beachtlichen Aufschwung. Die Macht des Militärs wurde zurückgestutzt und den Kurden erstmals ihre Existenz als Volk zugestanden. Er galt als Hoffnungsträger nicht nur aus Sicht europäischer Politiker, sondern auch vieler links eingestellter Türken. Dieser türkische Politiker hieß – man hält es heute kaum mehr für möglich – Recep Tayyip Erdoğan.

Vom Nimbus des Demokratiebringers ist wenig geblieben. Die Zeiten von mehr Freiheit sind längst vorbei. Nach dem Ende des vom kemalistischen Militär mitgelenkten autoritären Systems steuert der türkische Präsident sein Land erneut in autoritäre Gefilde. Als Vorwand dient der Kampf gegen die Gülen-Bewegung, die laut türkischer Regierung hinter dem jüngsten Putschversuch stecken soll.

Die genauen Hintergründe der dramatischen Geschehnisse von der Nacht auf vergangenen Samstag liegen nach wie vor im Dunkeln. Eines ist jedenfalls klar: Hätten tatsächlich Offiziere den gewählten Präsidenten, Erdoğan, und die gewählte Regierung gestürzt, wäre das ein schwerer Schlag für die türkische Demokratie gewesen. Militärherrschaft in der Türkei war in der Vergangenheit verbunden mit Massenverhaftungen, Hinrichtungen, Folter und einer Eskalation des Kurdenkonflikts.

Und auch das Beispiel Ägypten ist noch in Erinnerung: Dort verdrängte das Militär 2013 mithilfe eines Teils der Bevölkerung den gewählten Präsidenten, Mohammed Mursi, von der Macht. Sie warfen Mursi und seiner Muslimbruderschaft vor, in Ägypten ein islamistisches Staatssystem etablieren zu wollen. Der Preis des Umsturzes war hoch: Der Widerstand in den Straßen wurde vom Militär in einem Blutbad erstickt. Heute ist Ägypten ein weit rigiderer Polizeistaat als in den Jahren der ausgehenden Mubarak-Herrschaft.

Die Regierung in Ankara weist darauf hin, dass die Türkei vor solch düsteren Szenarien bewahrt worden sei – durch den mutigen Einsatz der Menschen, die sich den Panzern entgegengestellt und so die Demokratie gerettet hätten. Doch zugleich geht sie selbst daran, diese Demokratie Stein für Stein abzutragen – und bemüht dafür das Feindbild Gülen-Bewegung.

Die Gefolgsleute des Predigers Fethullah Gülen haben tatsächlich ihre Macht in Medien, Polizei und Justiz sukzessive ausgebaut. Wenn aber Vertreter Ankaras nun klagen, dass dieses „Schurkennetzwerk“ in den vergangenen Jahrzehnten den Staat unterwandert habe, so ist das pure Heuchelei: Denn es waren Erdoğan und die AKP, die kräftig am Aufstieg dieser Organisation mitgewirkt haben. Erdoğan und Gülen profitierten voneinander. Gülens Medien fielen zur Freude der AKP über Erdoğans Kritiker her. Und Gülens Männer in der Polizei stellten ein Gegengewicht zu den kemalistischen Militärs dar. Als der linke Journalist Ahmet Şik ein Buch über die Unterwanderung der Sicherheitskräfte durch die Gülen-Bewegung veröffentlichen wollte, wurde er 2011 unter Applaus der AKP ins Gefängnis geworfen.


Erst seit dem offenen Konflikt zwischen Erdoğan und Gülen ist alles anders. Jetzt tritt die türkische Regierung an, um die angeblich so gefährliche Bewegung des Predigers auszuschalten: mit Mitteln, die mit rechtsstaatlichen Kriterien nicht mehr viel zu tun haben – und nicht nur ganz gezielt Gülens Anhänger treffen. Die Entlassung Zehntausender, das Ausreiseverbot für Lehrer, Universitätspersonal und andere Akademiker: All das überschreitet das Maß dessen, wie man in einer Demokratie gegen eine innere Bedrohung vorgehen darf. Es scheint fast so, als wolle die AKP mit Kollektivmaßnahmen die Intellektuellen des Landes unter Druck setzen.

Angesichts dieses Vorgehens lassen die kommenden Wochen des Ausnahmezustands nicht Gutes erahnen. Die europäischen Staaten müssen nun sehr genau darauf achten, was beim EU-Betrittskandidaten Türkei geschieht. Die Türkei ist ein wichtiger Partner und Brückenland zwischen Europa und Asien. Ihr Präsident, Erdoğan, ist aber längst kein Hoffnungsträger mehr.

E-Mails an:wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2016)

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