Neue Grippe: Neue Studie gibt Entwarnung

(c) AP (Matthias Rietschel)
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Das Ludwig Boltzmann Institut kritisiert in einer Studie, dass die Auswirkungen der Krankheit maßlos überbewertet werden. Die Kosten für die Vorsorge stünden in keiner Relation zum erwartbaren Nutzen.

Seit Mitte April 2009 bekannt geworden ist, dass sich in Mexiko ein bisher nur unter Schweinen grassierendes Grippevirus auch unter Menschen verbreitet, hören die Alarmglocken nicht auf zu schrillen. Antivirale Medikamente sind ein Verkaufsschlager, Nationalstaaten investieren Milliarden von Euro in Schutzimpfungen gegen den vermeintlichen „Killer“. Einzig: Niemand weiß, wie gefährlich das Virus mit der Bezeichnung H1N1 (auch Neue Grippe oder Schweinegrippe genannt) wirklich ist.

Das Wiener Ludwig Boltzmann Institut (LBI) für Health Technology Assessment hält den gegenwärtigen Grippeaktionismus für „völlig unseriös“. Die Forscher haben weltweit nach objektivierbaren Daten zum Thema gesucht. Ihr Fazit: Todes- und Infektionsraten sind deutlich geringer als kommuniziert, veröffentlichte Opferzahlen mehr als nur fragwürdig. Insgesamt sei das Virus ernst zu nehmen, aber bei Weitem nicht so ernst, „wie es manche Politiker, Medien und deren Zuflüsterer tun“.

Die Forscher rund um Institutsleiterin Claudia Wild nennen konkrete Beispiele. Erst vergangene Woche hatte das Gesundheitsministerium via Boulevard der Bevölkerung eingeimpft, dass sich im kommenden Winter bis zu 2,4 Millionen Österreicher, das ist mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung, mit der Neuen Grippe infizieren könnten. Abhilfe schaffe nur der von der Republik beim Pharmariesen Baxter bestellte Impfstoff. Kosten für den Steuerzahler: 100 Millionen Euro (Quelle: Gesundheitsministerium).

Tatsächlich befällt das H1N1-Virus weniger Menschen als die „normale“ Grippe. In Australien etwa, wo mit dem Winter derzeit auch die typische Grippezeit zu Ende geht, ist die Infektionsrate sogar geringer als bei einer saisonalen Grippewelle (fünf bis 15 Prozent). Prognostiziert waren 22 bis 33 Prozent.

Seltsame Opferzahlen

Deutliche Kritik üben Institutsleiterin Wild, sie ist auch Mitglied des Obersten Sanitätsrates, und ihr Koautor Franz Piribauer an der mangelhaften Dokumentation über den Vorlauf der weltweiten Pandemie. So meldeten Großbritannien und Deutschland Ende August jeweils knapp 13.000 Infizierte seit der Entdeckung des Virus im Frühling. Während aber in Deutschland kein einziger Grippetoter beklagt wird, sind es im Königreich gleich 44. Wissenschaftlich erklärbar ist dieser Unterschied jedoch nicht, weder statistisch (Schwankungsbreite) noch medizinisch (unterschiedlich schwere Krankheitsverläufe bei gleichem Krankheitserreger). Auf Basis derart mangelhafter Daten Millioneninvestitionen zu tätigen bezeichnet Wild im Gespräch mit der „Presse“ als „aberwitzig“.

Und selbst wenn die Todeszahlen aus Großbritannien stimmen sollten (sie sind derzeit die höchsten in Europa), liefern sie keinen Grund zur Hysterie: Die saisonale Influenza fordert nach den Untersuchungen des US-amerikanischen Centers for Disease Control (CDC) pro 1000 Erkrankten durchschnittlich ein Todesopfer. Im Königreich sind es bei der Neuen Grippe derzeit 1,4.

Eine ganz andere Thematik greift eine aktuelle Forschungsarbeit auf, die an der Medizinuni Graz im Herbst 2008 erstellt wurde. Sie beschäftigt sich mit der volkswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Analyse der Influenza-Impfung. Demnach kostet jeder verhinderte Krankheitsfall das Gesundheitssystem 404,94Euro, jeder verhinderte Krankenhausaufenthalt kostet 25.365,30 Euro. Kosteneffizient ist demnach nur die Impfung von über 65-Jährigen, die pro geimpfter Person 58,64Euro spart. In Österreich gehören dieser Altersgruppe etwa 1,3 Mio. Personen an, das sind etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: Der Vertrag mit Baxter sichert Österreich die Lieferung von 16 Millionen Impfdosen.

Fragwürdige Politberater?

Für Wild und ihr Team besteht daher ein eklatantes Missverhältnis zwischen der tatsächlichen Bedrohung und den Maßnahmen, die nun getroffen werden. Das ausschließlich der Politik vorzuwerfen sei unfair. „Der Gesundheitsminister ist auch nur ein vom öffentlichen Druck Getriebener, der reaktiv handelt“, sagt Wild. Man müsse jedoch hinterfragen, welchen Gruppen jene Experten nahestehen, die die Politik beraten und Medien Schreckenszahlen diktieren. Namen will Wild jedoch nicht nennen. „Da setze ich mich nicht in die Nesseln.“ Zu hinterfragen sei auch der empfohlene Einsatz (teurer) antiviraler Medikamente. Laut der Daten des amerikanischen CDC weisen bereits 98Prozent der Viren des H1N1-Stammes (Typ A) Resistenzen gegen das Medikament Tamiflu auf. Trotzdem wird es hierzulande empfohlen. Noch. Vergangene Woche wurden in Wien die ersten Fälle publik, in denen sich Kassenchefärzte weigerten, Tamiflu auf Rezept auszustellen, dem Druck der verschreibenden Ärzte aber schließlich nachgaben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2009)

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